Dezentrale Energiewende führt laut Studie zum Erfolg
Ohne sofortige Abkehr von fossiler Energie aus Kohle, Gas und Öl droht in den kommenden Jahren und Jahrzehnten eine Klimakatastrophe, deren Ausmaße Ereignisse wie die aktuelle Corona-Pandemie als harmlose Fußnote der Geschichte erscheinen lassen werden. Forscher sind sich einig, dass die - ohnehin viel zu niedrigen - Ziele des Pariser Klimaschutz-Abkommens* kaum noch erreichbar sind, wenn nicht schnellstens gehandelt wird.
Eine Schlüsselfrage lautet: lässt sich die Energieversorgung einer dicht besiedelten Industrienation wie Deutschland vollständig aus erneuerbaren Quellen sicherstellen? Können Photovoltaik-Anlagen und Windräder Energie aus Erdöl, Erdgas und Kohle komplett ersetzen, ohne dass es zu Versorgungsproblemen kommt?
Eine Studie** des unabhängigen Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung*** und der Technischen Universität Berlin kommt zu dem Schluss: 100 Prozent erneuerbare Energien sind machbar und realistisch. Dabei raten die Forscher dringend zu einem grundsätzlichen Umdenken: Weg von der zentralen Energieversorgung durch wenige Großkonzerne, hin zu einem bürgernahen dezentralen Energiesystem, das aus (jeweils kleinen und mittelgroßen) Windkraftanlagen an Land und Photovoltaik-Anlagen auf Dächern und Freiflächen gespeist wird.
Energieerzeugung dort, wo sie verbraucht wird
Ein Forscherteam um Professor Christian von Hirschhausen und Professorin Claudia Kemfert hat mit umfassenden computergestützten Berechnungen gezeigt, dass damit nicht nur die Versorgungssicherheit - und zwar in jedem der 38 deutschen Regierungsbezirke - sondern auch die Netzstabilität garantiert ist. Sie berücksichtigten dabei den Energiebedarf der Industrie ebenso wie den erhöhten Strombedarf, der sich ergibt, wenn nahezu alle Menschen auf Elektrofahrzeuge umsteigen und wenn Heizwärme im Winter nur noch aus Strom-betriebenen Wärmepumpen erzeugt wird. Auch geografische Besonderheiten kalkulierten die Forscher ein: etwa die Zahl der Sonnenstunden oder die Windstärke in den unterschiedlichen Regionen.
Ein dezentraler Ausbau mit der Erzeugung von Energie dort, wo sie verbraucht wird, hätte entscheidende Vorteile. Nicht nur, weil damit eine weitgehende Unabhängigkeit der einzelnen Regionen von in- und ausländischen Stromimporten gewährleistet würde. Bürgerinnen und Bürger würden auch von niedrigeren Strompreisen und/oder der Beteiligung an entsprechenden Anlagen profitieren. Das Risiko für zentrale Netzengpässe und Stromausfälle - insbesondere auch durch zunehmend zu erwartende Hacker-Angriffe - sinkt drastisch.
Keine Ballung der Stromspeicher mehr in Norddeutschland
Im Gegensatz dazu hat die bislang politisch geförderte zentrale Stromversorgung erhebliche Nachteile. Nicht nur, weil Bürgerinnen und Bürger über den Strompreis die Profite der Strom-Konzerne und Netzbetreiber bezahlen müssen. Der aggressiv vorangetriebene und von der Gesellschaft finanzierte Ausbau gigantischer Stromtrassen mit schweren Schäden in der Natur wäre komplett vermeidbar. Auch was den erforderlichen Ausbau von Stromspeichern betrifft, die nicht nur für die Versorgungssicherheit wichtig sind, sondern auch, um Schwankungen im Stromnetz zu vermeiden, schneidet das dezentrale Konzept deutlich besser ab. Hier würden sich die Stromspeicher gleichmäßig über Deutschland verteilen, statt sich in Norddeutschland zu ballen - was nicht nur wirtschaftlicher wäre, sondern auch die Transportwege deutlich verringern würde.
Deutschland braucht nicht nur eine rasche Energiewende mit dem Fokus auf erneuerbaren Energien, so das Fazit der Forscher. Sondern auch eine Abkehr von der Politik der zentralen Energieversorgung - hin zu einer bürgernahen dezentralen Stromversorgung. Dies scheint nicht nur aus ökologischen, sondern auch aus sozialen und ökonomischen Gründen dringend geboten.
Anmerkungen
*Das Pariser Abkommen ist eine Vereinbarung von 195 Vertragsparteien der Klima-Rahmenkonvention der Vereinten Nationen. Es wurde am 12. Dezember 2015 in Paris verabschiedet und sieht die Begrenzung der menschengemachten globalen Erwärmung auf deutlich unter 2 °C gegenüber vorindustriellen Werten vor.
**Link zur Studie: https://www.diw.de/de/diw_01.c.816924.de/publikationen/politikberatung_…
***Das DIW Berlin (Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung) ist seit 1925 eines der führenden Wirtschaftsforschungsinstitute in Deutschland. Es erforscht wirtschafts- und sozialwissenschaftliche Zusammenhänge in gesellschaftlich relevanten Themenfeldern und berät auf dieser Grundlage Politik und Gesellschaft. Das Institut ist national und international vernetzt, stellt weltweit genutzte Forschungsinfrastruktur bereit und fördert den wissenschaftlichen Nachwuchs. Das DIW Berlin ist unabhängig und wird als Mitglied der Leibniz-Gemeinschaft überwiegend aus öffentlichen Mitteln finanziert.