Entfernt sich Deutschland weiter vom Klimaziel?
Im Jahr 2021 sind die Treibhausgasemissionen in Deutschland deutlich angestiegen. Mit einem Plus von rund 33 Millionen Tonnen CO₂ beziehungsweise 4,5 Prozent gegenüber 2020 droht die Bundesrepublik den Anschluss an ihr 2030-Klimaziel zu verlieren. Zugleich wird mit 38 Prozent Emissionsminderungen gegenüber 1990 das 2020-Ziel von -40 Prozent wieder verfehlt.
Haupttreiber für den Emissionsanstieg auf 772 Millionen Tonnen CO₂ waren die wirtschaftliche Teilerholung nach dem Pandemiejahr 2020, eine höhere Kohleverstromung bedingt durch stark gestiegene Gaspreise, ein Rückgang der Stromproduktion aus Erneuerbaren Energien sowie eine kühlere Witterung. Das zeigt die Jahresauswertung von Agora Energiewende, in der der Thinktank die wichtigsten Entwicklungen der Energiewende in Deutschland im Jahr 2021 vorstellt.
Die Umsetzungslücke zu den Klimazielen ist größer denn je
Die Agora-Analyse für 2021 bestätigt, dass die 2020 erreichten Emissionsminderungen überwiegend auf Einmaleffekte in Folge der Pandemie zurückzuführen waren. „Einerseits ist 2021 das Jahr, in dem sich Deutschland die ambitioniertesten Klimaziele seiner Geschichte gesetzt hat. Andererseits wächst die Umsetzungslücke weiter, die die neue Bundesregierung jetzt dringend mit wirksamen Klimaschutzmaßnahmen schließen muss“, sagt Simon Müller, Direktor Deutschland bei Agora Energiewende. „Insbesondere beim Klimaschutz im Gebäudebereich und bei den Erneuerbaren Energien gibt es großen Aufholbedarf.“
Das Klimaschutzgesetz gibt Minderungsziele für die Bereiche Energiewirtschaft, Gebäude, Verkehr, Industrie und Landwirtschaft vor. Laut Agora-Analyse verfehlt der Gebäudesektor nach 2020 nun auch 2021 das gesetzlich festgelegte Klimaziel, diesmal um 12 Millionen Tonnen CO₂. Hinzu kommt eine knappe Zielverfehlung im Verkehrssektor, obwohl die Mobilität der Deutschen coronabedingt noch immer eingeschränkt war. Die Emissionen der Industrie lagen auf dem Zielpfad, weil die Produktion auch 2021 noch etwas gedämpft war.
„Die wirtschaftliche Erholung des vergangenen Jahres war nicht grün. Angesichts des fortgesetzten Konjunkturaufschwungs ist ein weiterer Emissionsanstieg 2022 bereits absehbar. Nur ein schnell wirksames und umfassendes Sofortprogramm der neuen Bundesregierung kann verhindern, dass die Schere zwischen Klimazielen und Klimamaßnahmen noch weiter aufgeht“, sagt Müller.
Einbruch bei Ökostromproduktion, Comeback der Kohle
Während die Stromproduktion aus Windkraftanlagen 2021 der Agora-Analyse zufolge den größten Einbruch aller Zeiten verzeichnete, erzielte die Kohleverstromung einen Rekordzuwachs. Insgesamt lieferten Erneuerbare Energien 40,5 Prozent an der gesamten Stromerzeugung im Vergleich zu 43,6 Prozent 2020. Ihr Anteil am Stromverbrauch, also abzüglich des Exportüberschusses, lag 2021 nur noch bei 42,3 Prozent – im Vorjahr hatten sie dank Sondereffekten noch den Höchstwert von 45,6 Prozent erreicht. Die Kohle erhöhte ihren Anteil an der Stromerzeugung dagegen bedingt durch hohe Gaspreise um knapp ein Fünftel auf 27,8 Prozent – nach großen Verlusten im Jahr 2020.
Der schrumpfende Ökostromanteil im Jahr 2021 hatte vor allem zwei Gründe: Einerseits erholte sich der Stromverbrauch gegenüber 2020 wieder und stieg von 548 auf 560 Terawattstunden. Andererseits konnte dieser Anstieg aufgrund ungünstigerer Wetterbedingungen, wie schwächeren Winterstürmen zu Jahresbeginn, nicht von den Erneuerbaren abgedeckt werden. „Der starke Rückgang bei den Erneuerbaren Energien zeigt die Versäumnisse der Energiepolitik der letzten Jahre auf. Um den Ökostrom-Anteil bis 2030 wie im Koalitionsvertrag vorgesehen nahezu zu verdoppeln, braucht es nun einen massiven und schnellen Ausbau von Wind- und Solaranlagen“, sagt Simon Müller.
Den Rekordambitionen bei den Klimazielen steht ein Zubau von Erneuerbaren-Energien-Anlagen 2021 von nur 6,7 Gigawatt auf insgesamt 137 Gigawatt gegenüber. Solaranlagen machten drei Viertel des Zuwachses aus, der Rest waren neue Windenergieanlagen an Land. Windenergieanlagen auf See wurden 2021 keine angeschlossen. „Wir dürfen keine Zeit mehr verlieren. Eine Ausbauoffensive für Solarenergie kann schon ab 2022 dazu beitragen, die Ökostromlücke zu schließen“, ergänzt Müller.
Große Preissprünge an den Energiemärkten
2021 war außerdem das Jahr der fossilen Energiepreisrallye mit großen Preissprüngen an den Märkten: Im Jahresverlauf verelffachte sich der Preis von fossilem Gas zwischenzeitlich – von anfangs 20 Euro je Megawattstunde auf über 220 Euro. Infolgedessen wurden Steinkohlekraftwerke verstärkt eingesetzt. Der Mehreinsatz von Kohlekraftwerken erhöhte den CO₂-Ausstoß sowie die Nachfrage an CO₂-Zertifikaten im Europäischen Emissionshandel, wodurch auch der CO₂-Preis im Jahresmittel von 24,8 Euro je Tonne CO₂ auf 53,6 Euro anstieg; Ende des Jahres lag er bei rund 80 Euro je Tonne.
Im Tagesdurchschnitt stieg der Börsenstrompreis im Jahresverlauf zeitweise um mehr als das Siebenfache, von anfänglich 50 Euro auf über 430 Euro je Megawattstunde. Stromkund:innen bekamen diese starken Preisanstiege an der Börse im vergangenen Jahr bisher nur vereinzelt zu spüren. Durchschnittlich waren für Strom 32,2 Cent je Kilowattstunde fällig – ein Plus von 3,9 Prozent im Vergleich zu 31,0 Cent je Kilowattstunde im Jahr 2020. Ursächlich hierfür war in erster Linie das Ende der Mehrwertsteuersenkung; gleichzeitig wirkte die Absenkung der EEG-Umlage dämpfend. „Die Preisausschläge bei den Energiepreisen werden ab 2022 auch bei den Haushalten stark spürbar werden. Kurzfristig braucht es daher sozialpolitische Maßnahmen für einkommensschwache Haushalte, um steigende Strom- und Gasrechnungen abzufedern. Um langfristig günstige Energiepreise zu sichern, lautet die Lösung: Erneuerbare ausbauen. Nur so werden grüne Technologien wettbewerbsfähig und der Industriestandort Deutschland fit für die Klimaneutralität“, so Müller.
Die Energiepreise werden die öffentliche Debatte auch dieses Jahr prägen. „Das Energiepreisniveau 2022 wird vor allem von der Entwicklung des Erdgaspreises abhängen, da dieser die Preise für Strom und Wärme vorgibt“, sagt Agora-Experte Müller. Ausschlaggebend sind die Wetterbedingungen zu Jahresbeginn, die Verfügbarkeit von Gas-Import-Kapazitäten sowie die geopolitische Lage.
2022 wird entscheidend für das Erreichen der 2030-Klimaziele
In diesem Jahr muss die neue Bundesregierung das im Koalitionsvertrag angekündigte Klimaschutz-Sofortprogramm abschließen. Mit der Vollendung des Atomausstiegs 2022 und dem laufenden Kohleausstieg, muss das Sofortprogramm eine neue Dynamik für das Erreichen der 2030-Klimaziele schaffen. „2022 gilt es, endlich genug Flächen für Windkraft zu sichern, die Photovoltaik zu entfesseln, und die Netze für Klimaneutralität zu planen. Die Industrie braucht einen belastbaren Investitionsrahmen. Gebäudesanierungen und die soziale Wärmewende gibt es nur mit klaren Vorgaben und ausreichenden Fördermitteln“, sagt Müller. Auf europäischer Ebene wird die Implementierung des Fit-for-55-Pakets der Europäischen Kommission im Vordergrund stehen, bei der die neue Bundesregierung die Chance hat, auf eine ambitionierte Umsetzung hinzuwirken. „2022 muss das Jahr der Klimamaßnahmen werden, wenn die Bundesregierung es mit dem Bekenntnis zum 1,5-Grad-Ziel ernst meint“, sagt Müller.
Die Studie „Die Energiewende in Deutschland: Stand der Dinge 2021“ steht unter www.agora-energiewende.de zum kostenfreien Download bereit.