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Was passiert, wenn Russland den Gashahn zudreht

Bundeswirtschaftsminister Dr. Robert Habeck hat in den letzten Tagen noch einmal klar gemacht, dass er ein Verbot von Energieimporten aus Russland wegen des Ukraine-Kriegs ablehnt. Eine Studie zeigt allein für den Energieträger Erdgas, warum Habeck sich so positioniert: Ein Stopp russischer Gaslieferungen würde Europa vor große technische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Herausforderungen stellen.

Russland liefert bisher 30 bis 40% des Erdgases und 50% der Steinkohle, die in Europa verbraucht werden. Mit dem Krieg in der Ukraine wird die Sicherheit dieser Versorgung infrage gestellt. Aurora Energy Research hat die Auswirkungen einer Reihe möglicher Szenarien auf die europäischen Gasmärkte analysiert. Die Kernaussagen:

Szenarien wie die Aussetzung von Nord Stream 2 und eine mögliche Unterbrechung der Gasflüsse durch die Ukraine sind begrenzte Risiken für die Sicherheit der Gasversorgung in Europa. Der Markt könnte mit erhöhten LNG-Importen sowie Pipeline-Lieferungen aus Nordafrika reagieren.

  • Bei einem Szenario „Komplettausfall der russischen Gasimporte“ würde dagegen im nächsten Winter eine Lücke von 109 Mrd. m3 (38% der vor der Krise erwarteten Importe) entstehen.

     
  • Ein Teil der fehlenden Mengen ließe sich zum Beispiel durch eine Kombination aus höheren LNG-Importen und einer höheren Produktion aus inländischen und anderen Quellen schließen. Doch auch wenn alle Mittel zur Erhöhung des Angebots ausgereizt werden, bleibt eine Lücke von bis zu 33 Mrd. m3, die durch ausreichende Reserven in Gasspeichern oder eine Senkung des Gasverbrauchs geschlossen werden müsste.

     
  • Durch eine Kombination aus dem Wechsel von Gas auf Kohle, dem Weiterbetrieb von bis zu 25 GW zur Stilllegung vorgesehenen Kern- und Kohlekraftwerken in ganz Europa, Einsparungen oder Umstellung auf andere Brennstoffe in der Industrie sowie Effizienzsteigerungen und Verhaltensänderungen in den Haushalten ließe sich die Gasnachfrage um bis zu 14% senken, um eine etwaige Versorgungslücke zu schließen.

     
  • Die meisten dieser Maßnahmen sind mit erheblichen wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und technischen Herausforderungen verbunden. Vor allem die Verlängerung der Lebensdauer von Kern- und Kohlekraftwerken ist wirtschaftlich und technisch schwierig, da Stilllegungspläne zum Teil weit fortgeschritten sind und eine Brennstoffversorgung erst wieder aufgebaut werden müsste.

     
  • Die Füllstände der Gasspeicher sind derzeit europaweit auf niedrigem Niveau. Sie aufzufüllen, um die Versorgungslücke im nächsten Winter zu schließen, würde angesichts der aktuellen Preise und der niedrigen Füllstände Kosten zwischen 60 und 100 Mrd. Euro verursachen und ein Eingreifen der Regierungen erfordern.

Szenarien, Risiken, Handlungsoptionen

Die Abhängigkeit der EU von russischen Energielieferungen und die damit verbundene Anfälligkeit für die Folgen einer weiteren Eskalation des Krieges zwischen Russland und der Ukraine sind offensichtlich: Europa ist aktuell in hohem Maße von russischem Gas abhängig, es deckt etwa 30 bis 40% des gesamteuropäischen Bedarfs. Europas eigene Gasproduktion nimmt dagegen ab, zwischen 2015 und 2021 ist sie um 36% zurückgegangen. Die Füllstände der europäischen Gasspeicher liegen derzeit am unteren Ende der Werte in den vergangenen fünf Jahren.

Um mögliche Risiken zu verstehen und Handlungsoptionen zu bewerten, hat Aurora Energy Research die Auswirkungen einer Reihe von Szenarien auf die europäischen Gasmärkte untersucht:

  • Verzögerung der Inbetriebnahme von Nord Stream 2 nach der vorläufigen Aussetzung
  • Mögliche Unterbrechung des russischen Gastransits durch die Ukraine
  • Extremfall einer vollständigen Unterbrechung der Lieferungen aus Russland

Stopp von Nord Stream 2 bzw. keine Lieferungen durch die Ukraine

In einem Szenario, in dem sich die Inbetriebnahme von Nord Stream 2 bis 2025 verzögert, zeigt die Aurora-Analyse, dass Europa stärker als bisher erwartet auf LNG angewiesen wäre: Bis Nord Stream 2 in Betrieb gehen würde, müssten die LNG-Importe auf das Vor-Corona-Niveau von über 100 Mrd. m3/a steigen.

In einem zweiten Szenario wird die Aussetzung von Nord Stream 2 mit einer Unterbrechung der Gasflüsse durch die Ukraine kombiniert. Um die europäische Gasnachfrage zu decken, müssten in diesem Fall sowohl die LNG-Importe gesteigert (auf ein Maximum von 128 Mrd. m3 im Jahr 2024) als auch die Lieferungen durch Pipelines aus Nordafrika erhöht werden (auf über 50 Mrd. m3).

Beide Szenarien stellen kein nennenswertes Risiko für die Versorgungssicherheit in Europa insgesamt dar. Allerdings besteht ein erhebliches Risiko von Engpässen innerhalb Europas aufgrund begrenzter nachgelagerter Pipelinekapazitäten, um Gas von LNG- und afrikanischen Importterminals zu den Verbrauchern zu bringen.

Zudem würde die zunehmende Abhängigkeit von LNG und Pipeline-Gas aus Nordafrika einen erheblichen Aufwärtsdruck auf die Gaspreise in Europa ausüben: Schon jetzt sind die LNG-Preise in Asien parallel zu den europäischen Gaspreisen deutlich gestiegen, da erwartet wird, dass Europa mehr Gas aus nicht-russischen Quellen nachfragen wird. In Deutschland sind seit Beginn des Kriegs die Großhandelspreise für Gas um 82% und für Strom um 78% gestiegen; sie liegen damit nahe an historischen Höchstständen.

Kompletter Stopp russischer Gaslieferungen

Die Aurora-Analyse enthält auch ein Extremszenario, in dem es vor dem Winter 2022/23 zu einem Totalausfall der russischen Gaslieferungen nach Europa kommt. Das würde eine Minderlieferung von etwa 195 Mrd. m3/a bedeuten oder 109 Mrd. m3 während der Winterspitzenzeit (Oktober 2022 bis März 2023). Um diese Lücke in der Versorgung zu schließen, müssten sowohl das Angebot diversifiziert als auch Maßnahmen umgesetzt werden, um die Nachfrage zu reduzieren. Dies wäre jedoch mit erheblichen Kosten und Unsicherheiten verbunden und würde starke staatliche Eingriffe in die Strom- und Gasmärkte erfordern.

Mit folgenden Maßnahmen könnten alternative Gaslieferungen erhöht werden:

  • Eine verstärkte heimische Produktion in Europa sowie erhöhte Importe aus Nordafrika könnten insgesamt 25 Mrd.m3 zusätzlich liefern; für weitere Steigerungen gibt es nur begrenzt Spielraum. Lieferungen aus Algerien und Libyen bleiben aufgrund höherer heimischer Nachfrage und einer stagnierenden Produktion unter der Kapazität der Pipelines.

     
  •  Das niederländische Groningen-Feld soll eigentlich bis Ende 2022 größtenteils stillgelegt werden. Wenn es in Betrieb bleibt, wären zusätzliche Lieferungen möglich, allerdings birgt dies Umweltrisiken, denn viele Bohrlöcher wurden wegen des Erdbebenrisikos stillgelegt; zudem sind die Produktionsgrenzen rechtlich bindend.

     
  • Die europäischen Gasgroßhandelskunden müssten auf dem LNG-Spotmarkt konkurrieren, um sich den Rest der zusätzlichen Mengen von 24 Mrd. m3 zu erheblichen Kosten zu sichern. LNG-Einfuhren sind aufgrund der beschränkten Pipelinekapazitäten zwischen Spanien und Frankreich begrenzt; diese reicht nicht aus, um die spanische LNG-Importkapazität während der Wintersaison optimal zu nutzen.

     
  • Zudem müssten die europäischen Gasunternehmen vor dem nächsten Winter für ausreichende Speicherstände sorgen, um die winterliche Spitzengasnachfrage abfedern zu können. Würden alle europäischen Speicher vor einem Ausfall der russischen Lieferungen auf etwa 90% ihrer Kapazität aufgefüllt, könnten sie im nächsten Winter bis zu 75 Mrd. m3 liefern und die Versorgungslücke schließen. Derzeit sind die Füllstände jedoch auf einem niedrigen Niveau, da die Gaspreise bereits während der Einspeisesaison im Sommer 2021 zu hoch waren, um Anreize für starke Einspeicherungen zu bieten. Die Kosten für eine Auffüllung der Speicher auf 90% belaufen sich bei aktuellen Gaspreisen auf 60 bis 100 Mrd. Euro. Deshalb könnte es notwendig sein, dass die europäischen Regierungen eingreifen, um sicherzustellen, dass die Speicher gefüllt werden. Die deutsche Regierung hat bereits interveniert und verlangt vor dem nächsten Winter Mindestspeichermengen.

Jede dann noch verbleibende Versorgungslücke müsste durch eine Senkung der Gasnachfrage in allen Wirtschaftssektoren überbrückt werden. Folgende Maßnahmen kommen dafür in Frage:

  • Umstellung von Gas auf Kohle im Stromsektor: Wenn die Gaspreise hoch bleiben, sorgen schon wirtschaftliche Gründe für einen verstärkten Einsatz von Kohlekraftwerken, wodurch die Gasnachfrage im nächsten Winter um etwa 6 Mrd. m³ sinken könnte. Nachteil ist, dass dadurch die CO2-Emissionen steigen und die europäischen Bemühungen zur Dekarbonisierung untergraben werden.

     
  • Die geplante Schließung von 25 GW Kern- und Kohlekraftwerken in ganz Europa könnte verschoben werden, um den Gasbedarf zur Stromerzeugung um rund 12 Mrd. m3 zu senken. Diese Maßnahme ist jedoch mit erheblichen technischen und wirtschaftlichen Unsicherheiten behaftet, da sie eine Abkehr von den bestehenden individuellen Stilllegungsplänen der Kraftwerke bedeutet. Es dürfte zudem technisch und wirtschaftlich schwierig werden, kurzfristig die nötigen Brennstofflieferungen aus nicht-russischen Quellen zu erhalten, insbesondere für die Kernkraftwerke.

     
  • Für einen verlängerten Einsatz von Kohlekraftwerken in den europäischen Ländern müsste die (um rund 13 Mio. Tonnen höhere) Nachfrage nach Kohle gesichert werden. Zudem würden die Treibhausgasemissionen um 22 Mio. t CO2-Äquivalent steigen. Sollten auch Kohleimporte aus Russland gestoppt werden, würden sich zudem die Probleme noch weiter verschärfen, mit denen Betreiber von Kohlekraftwerken (insbesondere in Deutschland, Belgien und den Niederlanden) bereits jetzt bei der Beschaffung von Kohle zu kämpfen haben.

     
  • Eine Verringerung der industriellen Nachfrage ist kurzfristig nur durch Umstellung auf andere Brennstoffe oder durch Drosselung der Produktion möglich – was zum Teil schon aufgrund der hohen Preise passieren würde. Damit verbunden sind Auswirkungen auf die Einnahmen energieintensiver Industrieunternehmen.

     
  • Die Gasnachfrage der Privathaushalte würde kurzfristig nur geringfügig sinken, zum Teil bedingt durch die hohen Preise. Dies geht allerdings auf Kosten des Lebensstandards, zudem könnten mehr Haushalte in Energiearmut geraten. Verhaltensänderungen oder Energieeffizienzprogramme könnten den Verbrauch weiter senken, allerdings wirken sie eher mittel- bis langfristig.

     
  • Ein ungewohnt kalter oder warmer Winter würde das Gleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage beeinflussen. Aus der Vergangenheit wissen wir, dass der Gasverbrauch in diesen Fällen um plus/minus 5% (10 Mrd. m3) schwanken könnte. Im Fall eines kälteren Winters wird es schwieriger, ausreichende Gaslieferungen sicherzustellen.

Europa schafft den nächsten Winter ohne russisches Gas

Manuel Koehler, Managing Director EMEA bei Aurora Energy Research: „Ist es für Europa machbar, im nächsten Winter ohne russisches Gas auszukommen? Es würde Dutzende von Milliarden Euro kosten und erhebliche regulatorische Eingriffe in die Gas- und Strommärkte erfordern, aber ja, die EU könnte den Winter ohne Bezug von russischem Gas überstehen. Und sowohl die damit verbundenen Kosten als auch das Ausmaß der erforderlichen regulatorischen Eingriffe werden wahrscheinlich um eine Größenordnung unter dem Niveau liegen, das die EU und ihre Mitgliedstaaten zur Bewältigung der Covid-19-Krise aufbringen konnten.“

Die Studie zum Download gibt es hier.

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