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Elektromobilität: Was passiert, wenn alle gleichzeitig laden?

Niels H. Petersen
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In die Belchenstraße ist die Mobilität der Zukunft schon eingezogen. Zehn ausgewählte Haushalte aus der kleinen Wohnstraße in Ostfildern bei Stuttgart haben je ein Elektroauto vor der Tür. Sie sind Teil eines Pilotprojekts oder eines Experiments, je nach Sichtweise. Die Quote der Durchdringung mit Elektroautos liegt bei 50%. Die Ostfilderner testen so das Stromnetz und der Verteilnetzbetreiber bekommt eine Antwort auf die wichtige Frage: Was passiert, wenn alle gleichzeitig laden?

Alle Anwohner gehören zum selben Stromkreis. So können Lastspitzen frühzeitig erkannt werden, um schnell gegenzusteuern. Das Stromnetz als solches interessiert die Probanden natürlich nicht. Sie möchten morgens ein vollständig geladenes Elektroauto vor der Tür finden. Die latente Angst, dass die Reichweite sonst nicht ausreicht, schwingt da immer mit. Allerdings nimmt sie im Verlaufe der Testphase nach und nach ab. Die Erfahrung nach gut einem Jahr Praxis wirkt also. „Immerhin haben die Fahrer und Fahrerinnen dreimal mehr Zeit zum Laden, als sie benötigen“, berichtet Selma Lossau.

Netzbelastung geringer als erwartet

Die promovierte Ingenieurin leitet die Abteilung Netzintegration Elektromobilität beim Verteilnetzbetreiber Netze BW. Die Netzbelastung sei in jedem Fall deutlich geringer als vorher erwartet, sagt Lossau. „Besonders hohes Potenzial gibt es beim intelligenten Lademanagement und bei Batteriespeichern.“ Bei einem Haushalt ist ein Batteriespeicher mit 19 Kilowattstunden Kapazität installiert.

Das intelligente Lademanagement entlastet das Verteilnetz von Netze BW.

Gerade hier musste der Netzbetreiber nie direkt in den Ladevorgang eingreifen, um das Netz zu entlasten. Zudem gibt es für das Projekt eine Art Quartierspeicher mit 66 weiteren Kilowattstunden und 60 Kilowatt Leistung. Das Ergebnis der ersten Testphase: Die Stromer haben erkennbare Lastspitzen verursacht. Bis 22% erhöhte sich die nachgefragte Maximallast.

Die Fahrer brauchten im Schnitt 200 Kilowattstunden Strom pro Fahrzeug und Monat. Die meisten laden ihr Auto zwischen sieben Uhr abends und halb eins in der Nacht. Das Aufladen benötigt im Schnitt zwei Stunden und 17 Minuten bei einer Standzeit von rund 7,5 Stunden. An knapp 17 Stunden pro Tag fand also kein Ladevorgang statt. Im Einsatz befinden sich mehrere Fahrzeugmodelle: ein Renault Zoe, der BMW i3 sowie der VW EGolf und ein US-Sportwagen.

Jeder wollte den Tesla fahren

Das Model S von Telsa war bei den Probanden sehr begehrt, alle wollten das Fahrzeug mal erleben. Deshalb kann es nun von allen Teilnehmern drei Wochen zusätzlich genutzt werden. Die Kunden konnten vorher via App ihre gewünschte Ladeleistung zwischen sechs und 22 Kilowatt definieren und mitteilen, wann das Auto geladen sein sollte.

Durch eine durchschnittliche Verlängerung des Ladevorgangs um eine Stunde wurde die Netzbelastung in den Abendstunden nochmals enorm verringert.

Das Model S von Telsa war bei den Probanden besonders begehrt.

Heimspeicher entlasten das Netz

Denn Netzstabilität ist in Baden-Württemberg mit den vielen Solarstromanlagen ein wichtiges Thema. Gerade hat die neue digitale Plattform DA/ RE im Ländle die erste Phase eines anderen Pilotprojektes beendet. Die vier Unternehmen MVV Trading, Next Kraftwerke, Sonnen und Entelios und die drei Verteilnetzbetreiber Netze BW, MVV Netze, Stadtwerke Schwäbisch Hall und der Übertragungsnetzbetreiber Transnet BW haben den Datenaustausch sowie den Koordinationsprozess definiert und ausgearbeitet.

Mithilfe des neuen Konzepts wurden Heimspeicher und mehrere Biogasanlagen sowie ein Abfall- und ein Heizkraftwerk für die Netzstabilität im Verteilnetz eingesetzt. „Die Abrufe von Anlagen aus dem Verteilnetz stellen für uns einen wesentlichen Meilenstein dar, da sie zeigen, dass das Konzept praktikabel ist“, erklärt Projektleiter Florian Gutekunst von der Transnet BW.

Für die Techniker war es wichtig, dass die Tests mit Anlagen sowohl in der Mittelspannung als auch in der Niederspannung durchgeführt wurden, um Flexibilitäten auf allen Spannungsebenen nutzbar zu machen. Zukünftig sollen alle Beteiligten auf allen Spannungsebenen vollständige Transparenz über den Abruf und die gelieferte Leistung haben.

Durch eine intelligente Steuerung werden die Heimspeicher in der Region je nach Bedarf be- oder entladen, um zum Beispiel überlasteten Netzknoten gezielt Strom abzunehmen. „Je näher ein Speicher dabei an einem Engpass helfend eingreift, desto größer ist der Nutzen für das Stromnetz“, erklärt Jean-Baptiste Cornefert, Geschäftsführer von Sonnen E-Services. Denn ähnlich einem Stau auf der Autobahn gebe es auch im Stromnetz immer wieder überlastete Engstellen, die so durch gezieltes Be- oder Entladen ausgeglichen werden. „Darüber hinaus sind keine Investitionen in die Infrastruktur nötig, da die Batterien bereits in den Haushalten in der Region installiert sind“, sagt Cornefert.

Umstieg von Verbrennungsmotoren zu Elektroautos und Brennstoffzellen

Die Bilanz der Energiewende kann sich insgesamt sehen lassen, findet Franz Untersteller. Der Grünen-Politiker ist Umweltminister von Baden-Württemberg. „44% Ökostrom im ersten Halbjahr 2019 im gesamten Bundesgebiet sind ein Erfolg. Und das derzeit viel diskutierte Thema Klimaschutz wird den Erneuerbaren weiter Auftrieb geben“, hofft Untersteller. Zudem sei er froh, dass es aufgrund der positiven Entwicklungen bei den Erneuerbaren keine Diskussion um die Kosten mehr gebe.

Der Umweltminister weiß aber auch: Der noch dickere Brocken für die Energiewende liegt eindeutig im Verkehrssektor. Auch deshalb ist das Projekt der E-Mobility-Allee für Untersteller selbst wichtig. Denn Baden-Württemberg beherbergt mehrere große Autobauer. Und die Branche steht vor einem schwierigen Transformationsprozess. „Für die Politik gilt es, den Transformationsprozess von der alten in die neue Mobilitätswelt zu begleiten“, sagt Untersteller. Es geht dabei konkret um den Umstieg von Verbrennungsmotoren hin zu Elektroautos und Autos mit Brennstoffzellen. Autonomes Fahren und Digitalisierung sind weitere Trends, die die Autobauer umtreiben.

Es geht in Baden-Württemberg um viele Arbeitsplätze

Vor allem geht es um Arbeitsplätze: „Drei große Hersteller plus Zulieferer machen bei uns 440.000 Arbeitsplätze aus. Sie sind ein wesentlicher Grund für den Wohlstand in unserem Bundesland“, weiß auch Untersteller. Der grüne Ministerpräsident Winfried Kretschmann ist bekennender Dieselfahrer, das sagt einiges aus. Das Thema ist sehr vielschichtig und mit Vorsicht zu genießen, gerade in Baden-Württemberg. Deshalb hat Ministerpräsident Kretschmann vor zwei Jahren den sogenannten Strategiedialog Autowirtschaft eröffnet, der insgesamt über sieben Jahre laufen soll. Politik, Wirtschaft und Forschung sitzen dort an einem Tisch zusammen. Eine intelligente Ladeinfrastruktur für Stromer und Brennstoffzellenautos wird dabei mitgedacht.

Eine von der Bunderegierung beauftragte Expertenkommission hat im Juni Ibbenbüren bei Münster als Hauptstandort für die deutsche Batteriezellforschung auserwählt. Das Thema kochte in der Sommerpause richtig hoch und brachte Bundesbildungsministerin Anja Karliczek (CDU) in Zugzwang, weil es sich dabei um ihre Heimatgemeinde handelte. Die nordrhein-westfälische Landesregierung wird nach der erfolgreichen Bewerbung Münsters für Aufbau und Betrieb der „Forschungsfertigung Batteriezelle“ (FFB) insgesamt mehr als 200 Millionen Euro zur Verfügung stellen.

Wettbewerb um Forschungsgelder für Stromer

Das hat Untersteller naturgemäß nicht gefallen. „Ehrlich gesagt, stehen wir immer noch unter Schock“, sagt er in einem Hintergrundgespräch vor Journalisten im Juli in Stuttgart. Aus seiner Sicht sprachen viele Kriterien für den Standort in Ulm. Über Ostern war demnach schon eine Zuschussfinanzierung des Landes über 180 Millionen Euro zugesagt worden. „Die leeren Gebäude stehen schon bereit und könnten morgen bezogen werden“, betont der Umweltminister. In Münster müssten diese erst auf der grünen Wiese errichtet werden. Zeit ist beim Aufbau einer Zellfertigung ein wesentliches Thema. Für Untersteller ist nicht ersichtlich, wie das in Ibbenbüren schneller gehen soll als in Ulm.

Bessere Klimabilanz der Stromer

Ist das Elektroauto wirklich ökologischer als ein Verbrenner? Es sei an der Zeit, die hartnäckigen Zweifel endlich auszuräumen, schreibt der BDEW, der Branchenverband der Energieversorger: Denn schon heute sei die Klimabilanz von Stromern besser als die von Dieseln oder Benzinern.

Eine einfache Beispielrechnung des Verbands zeigt das: Ein Auto, das Normalstrom tankt, emittiert mit einer jährlichen Fahrleistung von 14.300 Kilometern rund 1,06 Tonnen Kohlendioxid pro Jahr. Das sind knapp 60% weniger als ein Auto, das mit Superbenzin (2,38 Tonnen) oder Diesel (2,42 Tonnen) fährt. Hinzu komme, dass der Ökostromanteil am Strommix kontinuierlich steigt – und zahlreiche Ladesäulen schon heute 100% grünen Strom anbieten.

Belchenstraße liefert eine Blaupause

Auch die Stromnetze sind bereit: Sie könnten heute bis zu 13 Millionen Elektroautos laden – das entspricht 30% des gesamten Pkw-Bestandes in Deutschland. Allerdings dürfen die Fahrzeuge eben nicht alle gleichzeitig laden.

In der Belchenstraße wurde der Ladestau schon erfolgreich aufgelöst. Und die Probanden haben keine Angst mehr, dass ihr Stromer am nächsten Morgen nicht aufgeladen sein könnte. Diese psychologische Komponente sollte nicht unterschätzt werden. Die Blaupause für eine elektrische Mobilitätswelt ist hier geglückt.

Dieser Beitrag ist zuerst erschienen in Photovoltaik 09/2019.

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