Ungenutztes Potenzial für Wohnraum durch Aufstockung steigt und steigt
Hohe Baukosten und Grundstückspreise halten derzeit viele Bauwillige von der Umsetzung ihrer Pläne ab. Das spiegeln die Baugenehmigungen wider, die sich im Sinkflug befinden. Zugleich fehlt es überall in Deutschland an bezahlbarem Wohnraum. „Das beste Mittel gegen Wohnungsmangel und hohe Mieten und für eine möglichst effiziente Flächennutzung ist der Bau von Wohnungen dort, wo sie gebraucht werden – und zwar in der Stadt: durch Aufstockung und Dachgeschossausbau“, sagt Younes Frank Ehrhardt, Geschäftsführer von Haus & Grund Hessen. „Doch die Rahmenbedingungen für Hauseigentümer sind dafür alles andere als förderlich.“ Dazu sagt Jürgen H. Conzelmann, Vorsitzender von Haus & Grund Frankfurt: „Neben Bund und Land haben auch Kommunen viele Möglichkeiten, das Potenzial zu heben. Seit Jahren gehen Studien allein in Frankfurt von einem Potenzial von etwa 10.000 bis 15.000 neuen Wohnungen durch den Ausbau von Dachgeschossen und Aufstockung aus. In Frankfurt wird der Ausbau von Dachböden zu Wohnzwecken in 14 Gebieten durch Milieuschutzsatzungen verhindert.“
Einmal mehr „ernüchternd und ermutigend zugleich“, findet Ehrhardt die neuesten Zahlen von Professor Karsten Tichelmann von der TU Darmstadt zum Aufstockungs- und Umnutzungspotenzial von Wohngebäuden und Nichtwohngebäuden. „Insgesamt könnten durch Aufstockung bundesweit 2,35 bis 2,82 Millionen Wohnungen die angespannten Wohnungsmärkte in Deutschland entlasten“, berichtet Tichelmann, der seit 2016 in Zwei-Jahres-Schritten das Potenzial von Wohnraumgewinnung durch Aufstockung für Deutschland untersucht. Und das wird seither immer größer, weil die Chance ungenutzt bleibt, neuen Wohnraum zu schaffen, ohne dafür Flächen zu versiegeln. Tichelmann: „Neues Bauland zu erschließen, ist nur begrenzt möglich und mit unseren Klimaschutzzielen nicht vereinbar. Aufstockung schafft neuen Wohnraum ohne die Versiegelung von Baugrundstücken – und das kostengünstiger, weil ohne Erschließungskosten und ohne zusätzliche Grundstückskosten.“
Potenzial auf Wohnhäusern, Bürogebäuden, Parkhäusern und Einzelhandel
Die Zahlen im Einzelnen: Laut Tichelmann könnten bundesweit aktuell auf Wohngebäuden aus den 1950er- bis 1990er-Jahren 1,36 bis 1,81 Millionen zusätzliche Wohneinheiten entstehen. 21.600 zusätzliche Wohneinheiten wären auf Parkhäusern der Innenstadt möglich, 561.000 durch Aufstockung von Büro- und Verwaltungsgebäuden, und 340.000 Wohnungen könnten in und auf leer stehenden Büro- und Verwaltungsgebäuden entstehen. Dächer von eingeschossigem Einzelhandel, Discountern und Märkten haben ein Potenzial von 427.000 zusätzlichen Wohnungen, ohne dass Verkaufsfläche verlorenginge. „Dem ungenutzten Potenzial für bis zu 2,82 Millionen Wohneinheiten steht ein Bedarf von jährlich etwa 316.000 zusätzlichen Wohnungen bis zum Jahr 2028 gegenüber“, so Tichelmann.
Für das Rhein-Main-Gebiet haben Tichelmann und sein Team ein Potenzial von bis zu 250.000 Wohnungen durch Aufstockung und Umwandlung von Wohngebäuden und Nichtwohngebäuden ausgemacht. Dazu gehören auch Parkhäuser, Büro- und Verwaltungsgebäude sowie eingeschossige Einzelhandelsmärkte. Auf 46.750 Mehrfamilienhäusern der Baujahre 1950 bis 1990 könnten demnach 97.000 zusätzliche Wohnungen entstehen, auf jüngeren Häusern weitere 29.600 Wohnungen. Tichelmann: „Die Lücke zwischen angebotenem Wohnraum und tatsächlichem Bedarf hat sich seit Beginn unserer Erhebung 2016 immer weiter vergrößert. Die Baulandpreise sind gestiegen und aktuell auch die Baukosten. Kaum ein anderes Wirtschaftsgut hat sich seither so verteuert wie Immobilien.“
Bürokratische Hürden für Bauwillige
Der Wille zur Schaffung von Wohnraum ist da, scheitert aber oft an bürokratischen Hürden – wie das Beispiel von Dr. Manfred Wassmann, Kinderarzt aus Nordrhein-Westfalen, zeigt. Seit einiger Zeit möchte er das Haus seiner Tante in Frankfurt-Bornheim aufstocken und energetisch sanieren. Es stammt aus den 50er-Jahren und wurde in den Neunzigern nur spärlich saniert. „Ich möchte das Haus energieautark machen, damit die Miete weiterhin so niedrig bleiben kann, wie sie vor der Explosion der Energiepreise war.“ Aber: „Ich werde von A nach B und wieder zurückgeschickt.“ Das Problem: Für das Haus gilt der Milieuschutz. „Eine Sanierung nach der heutigen Milieuschutzsatzung würde die Energiekosten kaum senken – eine Aufstockung wäre nicht möglich.“ Wassmann wollte das nicht hinnehmen und hat sich an Planungsdezernent Mike Josef gewandt. Der hat ihm eine Überarbeitung der Milieuschutzsatzung in Aussicht gestellt. „Das Konzept wird zeitnah vorgestellt werden und kann als Grundlage für Ihr Sanierungsvorhaben dienen“, heißt es in dem Schreiben. „Das war im Oktober 2022“, so Wassmann.
Runder Tisch diskutiert Herausforderungen der Frankfurter Satzungen
Bei einem „Runden Tisch Milieuschutz“ diskutierten im März 2023 erstmalig Vertreter von Wohnungsunternehmen, Vermieter- und Mieterverbänden und der Stadtverwaltung die Hemmnisse zur Schaffung von mehr neuem Wohnraum im Gebäudebestand und mehr energetischen Modernisierungen, die insbesondere durch die Frankfurter Milieuschutzsatzungen verursacht werden.
Jürgen H. Conzelmann fasst die Notwendigkeit für Erleichterungen von Baumaßnahmen in Milieuschutzgebieten zusammen: „Der Wohnungsmangel im Ballungsraum droht in den kommenden Jahren stark zuzunehmen. Seit Jahren ist durch Studien bekannt, wie groß für Frankfurt das Potenzial von neuem Wohnraum durch den Ausbau von Dachgeschossen und Aufstockung ist. Derzeit ist es für private Haus- und Wohnungseigentümer aber insbesondere in den 14 Frankfurter Milieuschutzgebieten praktisch unmöglich, mehr neuen Wohnraum in bestehenden Wohnungen und Häusern zu schaffen. Der Ausbau von Dachgeschossen über bewohnten Dachwohnungen wird nach den aktuellen Vorgaben praktisch nicht genehmigt. Das enorme Potenzial für neuen und kostengünstigen Wohnraum durch Dachausbau und Dachaufstockungen wird nicht ausgeschöpft. Die Stadt muss die Genehmigungspraxis ändern und vorhandene Ermessensspielräume besser nutzen. Die privaten Eigentümer brauchen flexiblere Regelungen, damit mehr neuer Wohnraum entstehen kann und auch mehr energetische Modernisierungen alter Häuser erfolgen. Die konstruktive Diskussion des ersten Runden Tisches muss in konkrete politische Projekte umgesetzt werden.“
Rolle der privaten Haus- und Grundeigentümer
„80,6 Prozent aller Wohnungen in Deutschland befinden sich in privater Hand. In Hessen sind es 85 Prozent“, sagt dazu Ehrhardt. „Damit stellt die Gruppe der privaten Hauseigentümer ein großes zusätzliches Potenzial für den Wohnungsmarkt dar, das besser gehoben werden muss – aber viele von ihnen werden wie Herr Dr. Wassmann in ihren Plänen zur Wohnraumschaffung ausgebremst, weil sie immer wieder an bürokratischen Hürden scheitern.“ Deshalb hat Haus & Grund Hessen einen 6-Punkte-Plan entwickelt. Ehrhardt: „Die Landesregierung kennt diese Punkte seit Jahren und hat jedes Mal, wenn wir sie vorgebracht haben, wohlwollende Prüfung zugesagt. Passiert ist aber nichts. Das aktuelle Potenzial von bis zu 250.000 Wohneinheiten, die durch Aufstockung im Rhein-Main-Gebiet entstehen könnten, ist das Resultat jahrelanger Untätigkeit des Landes, das zugelassen hat, dass es immer weiter steigt – von 216.000 möglichen Wohnungen im Jahr 2019 über 240.000 im Jahr 2021 bis heute. Es ist an der Zeit, in diesem Land – und auch bundesweit – das brachliegende Potenzial für neuen Wohnraum ohne jegliche Flächenversiegelung und Erschließung zu nutzen und vor allem private Bauwillige bei ihren Vorhaben zu unterstützen, damit endlich Bewegung in den Wohnungsmarkt kommt.“
Der 6-Punkte-Plan von Haus & Grund Hessen
- Zentrale Anlaufstelle: Diese neue Einrichtung erleichtert privaten Eigentümern den Weg zum Bauantrag, indem sie sie in technisch-rechtlichen Fragen unterstützt.
- Fördertopf für Aufstockungen und Dachgeschossausbau in Kommunen, wo der Wohnungsmarkt besonders angespannt ist.
- Baugenehmigungsfiktion: Nach Vorliegen der vollständigen Antragsunterlagen hat die Behörde zwei Monate Zeit, um darüber zu entscheiden. Auch ohne eine Mitteilung gilt der Antrag nach dieser Frist als genehmigt.
- Dachgeschossausbauten werden baugenehmigungsfrei gestellt.
- Entfall der Stellplatzablöse für Dachgeschossausbau und Aufstockungen.
- Dauerhafter Wegfall mietpreisregulierender- und kündigungsbeschränkender Vorschriften bei Wohnraum, der durch Aufstockung und Dachgeschossausbau neu geschaffen wurde.