Serielles Sanieren: Das steckt hintern dem Energiesprong-Prinzip
Wer seinen Bestand fit für die klimaneutrale Zukunft machen will, muss den Status quo kennen. Vollständige, verlässliche und valide Daten sind das Fundament, auf dem jede CO2-Roadmap aufgebaut wird. Die schlechte Nachricht: Für 99 Prozent des Bestandes liegen nur unzureichende Gebäude- und Verbrauchsdaten vor. Die gute Nachricht: Es gibt zahlreiche Dienstleister und ein breites Angebot an digitalen Tools, die die Immobilienwirtschaft bei der Analyse ihrer Portfolios und der Entwicklung maßgeschneiderter Dekarbonisierungsstrategien unterstützen.
Vielfach reicht die Adresse der Immobilie. Mithilfe öffentlich zugänglicher Daten, Statistik und Künstlicher Intelligenz lässt sich eine Datenbasis generieren, die eine Treffsicherheit zwischen 75 und 90 Prozent aufweist. Nach bisherigen Portfolioanalysen der Deutschen Energie-Agentur (Dena) sind rund 30 Prozent aller Mehrfamilienhäuser optimal für eine serielle Sanierung geeignet. Hinzu kommen 15 Prozent, bei denen der innovative Modernisierungsansatz technisch möglich ist, sich derzeit aber noch nicht wirtschaftlich umsetzen lässt.
Die Einschätzung, welche Teile eines Portfolios für eine serielle Sanierung infrage kommen, erfordert Expertise und Erfahrung. Das Energiesprong-Team der Dena unterstützt Wohnungsunternehmen und Bestandshalter bei der Portfolioanalyse und der Ermittlung passender Gebäude. Das Ergebnis der seriellen Sanierungsanalyse lässt sich problemlos in bereits bestehende CO2-Roadmaps integrieren. Diese Leistung ist wie alle anderen Beratungs-, Informations-, und Veranstaltungsangebote kostenlos (Abb. 1).
Gebäude clustern
Eine größere Anzahl baugleicher Gebäude bietet in der Regel kostengünstigere Sanierungsmöglichkeiten. Deshalb ist es empfehlenswert, Gebäudetypen zu clustern und serielle Sanierungen auf Quartiersebene zu planen. In größerem Maßstab lassen sich energetische Modernisierungen zu einem deutlich besseren Preis-Leistungs-Verhältnis umsetzen.
Das bislang größte serielle Sanierungsprojekt in Deutschland wird derzeit in Erlangen realisiert. Bis 2027 will die Gewobau, die Wohnungsgesellschaft der Stadt, mehrere Quartiere mit tausenden Wohnungen seriell sanieren und die Wärmeversorgung von fossilen auf regenerative Energieträger umstellen. Im ersten Bauabschnitt hat das Bauunternehmen Niersberger ein Quartier mit über 475 Wohnungen auf den klimaneutralen NetZero-Standard gebracht. Bei Sanierungen in dieser Größenordnung greifen erste Mengeneffekte, die zu sinkenden Kosten führen.
Worst Performer priorisieren
Entsprechend der Maxime „worst first“ sollten Gebäude mit der schlechtesten Energiebilanz als erstes saniert werden (Abb. 2). Denn Worst Performing Buildings verursachen rund die Hälfte aller CO2-Emissionen im Wohngebäudebereich. Mit jedem investierten Euro lassen sich hier die höchsten Energie- und CO2-Einsparungen erzielen. Alle bislang realisierten Energiesprong-Projekte haben gezeigt, dass selbst die ineffizientesten Gebäude mit seriellen Sanierungslösungen energetisch auf das Niveau eines Neubaus gebracht werden können.
Abbildung 2: Optimal für eine serielle Sanierung eignen sich Gebäude, die folgende Merkmale aufweisen:
• zwei bis acht Vollgeschosse (u.a. für ein günstiges Verhältnis von Solar- zu Wohnfläche)
• mindestens 1.000 m² Wohnfläche (auch mehrere nebeneinanderliegende Gebäude)
• hoher Energieverbrauch von über 130 kWh/m²a
• keine Grenzbebauung
• umlaufend Platz für Zufahrt und Baustelleneinrichtung
• geringe Verschattung (insbesondere der Dachflächen)
• einfache Kubatur
• unbewohnte Keller- und Dachgeschosse
• kein Denkmalschutz
Ein Beispiel dafür ist der als Studentenheim genutzte Mehrfamilienhauskomplex des kommunalen Wohnungsunternehmens WWS Wohn- und Wirtschafts-Service Herford. Wie viele Nachkriegsbauten wiesen die 1957 errichteten Gebäude den höchsten CO2-Ausstoß im Bestand auf. Mit einem jährlichen Primärenergieverbrauch von 379 Kilowattstunden pro Quadratmeter gehörten sie in die schlechteste Energieeffizienzklasse und hatten somit den höchsten Sanierungsdruck. Nach der Sanierung haben die Gebäude einen enormen „Energiesprung“ von Effizienzklasse H zu A gemacht. Der Primärenergiebedarf reduzierte sich um 89 Prozent, die CO2-Emissionen sanken um 170 Tonnen pro Jahr. Aus den vormals Worst Performing Buildings sind damit Top-Performer im Portfolio der WWS Herford geworden.
Szenarien simulieren
Eine Dekarbonisierungsstrategie, die für alle Portfolios passt, kann es nicht geben. Dazu sind die Bestände in Bezug auf Baujahr, Energieversorgung, Gebäudetypen, Kubatur, Mieterstruktur, Modernisierungsstand, Nutzungsarten und Verbräuche zu divers. Vielmehr gilt es, maßgeschneiderte CO2-Roadmaps für einzelne Gebäude, größere Straßenzüge oder ganze Quartiere zu entwickeln. Mithilfe von Szenariosimulationen und systematischer Modellierung ist es möglich, aus tausenden Modernisierungsvarianten den wirkoptimalsten Maßnahmenmix mit dem besten Kosten-Nutzen-Verhältnis zu finden.
Wer gut im Zeitplan liegt, kann – wie die LEG – im Kleinen ausprobieren, was im großen Maßstab funktionieren soll. Der Wohnungskonzern lässt in Mönchengladbach 19 baugleiche Mehrfamilienhäuser aus den 1950er-Jahren von den Baupartnern B&O, Ecoworks, Fischbach, Renowate und Saint-Gobain pre.formance nach unterschiedlichen Ansätzen seriell sanieren. Im Rahmen des Reallabors wird erprobt, welche Sanierungslösung am besten geeignet ist, um große Bestände schnell, einfach, mieterfreundlich und bezahlbar auf den klimaneutralen NetZero-Standard zu bringen.
Lösungsoffen planen
Ziel einer seriellen Sanierung nach dem Energiesprong-Prinzip ist der klimaneutrale NetZero-Standard. Wie dieser erreicht wird, bleibt Bauherren, Architekten und Planern überlassen. Das eröffnet maximale Freiheit bei der Auslegung der thermischen Hülle, der verwendeten Heiz-, Kühl- und Lüftungstechnik sowie der regenerativen Energieversorgung. Als Fassadenelemente sind sowohl Holz- als auch Glas-Stahlrahmenkonstruktionen denkbar. Die Erzeugung erneuerbarer Energie erfolgt in der Regel über Photovoltaikmodule auf dem Dach und an Teilen der Fassade. Die Heizenergie wird zumeist mithilfe von Wärmepumpen erzeugt, möglich sind aber auch Infrarotheizungen oder die Anbindung an ein Nah- oder Fernwärmenetz.
Welche Lösung am besten zum jeweiligen Quartier passt, lässt sich durch eine Machbarkeitsstudie ermitteln. Untersucht wird dabei die technische, wirtschaftliche und rechtliche Machbarkeit des seriellen Sanierungsvorhabens.
Sanierung weiterdenken
Vielfach lässt sich eine serielle Sanierung mit weiteren Modernisierungsmaßnahmen verbinden. Durch ein abgestimmtes Vorgehen können so Kosten, Ressourcen und Zeit gespart werden. Wird die klimaneutrale Bestandsmodernisierung zum Beispiel mit einer Aufstockung kombiniert, lässt sich on top dringend benötigter Wohnraum schaffen. Allein auf den in den 1950er- bis 1990er-Jahren erbauten Mehrfamilienhäusern wäre Platz für bis zu 1,5 Millionen weitere Wohnungen. Und dies zu Kosten, die weit unter denen eines Neubaus liegen. Zudem ist die serielle Sanierung plus Aufstockung ein ökologisches und ökonomisches Win-Win-Modell. Denn es müssen keine zusätzlichen Flächen versiegelt werden und die Mieteinnahmen der aufgestockten Wohnungen leisten einen Beitrag zur Refinanzierung der Sanierungsinvestition.
In der Allacher Straße in München zeigt die Baugenossenschaft Hartmannshofen, was in Sachen Aufstockung möglich ist. Sie lässt zwei fünfgeschossige Punkthäuser von der B&O-Gruppe seriell sanieren und um drei zusätzliche Etagen aufstocken. Zu den 50 Bestandswohnungen kommen 24 großzügige Familienwohnungen mit einer Gesamtwohnfläche von 1.900 Quadratmetern hinzu.
Business-Case berechnen
Im Vergleich zur konventionellen energetischen Modernisierung eröffnet das serielle Sanieren erheblich mehr Kostensenkungspotenziale. In Kombination mit Förderprogrammen auf Bundes- und Landesebene ergibt sich daraus ein attraktiver Business-Case für die Wohnungswirtschaft. Ziel des Energiesprong-Prinzips ist es, dass sich Sanierungsinvestitionen größtenteils über eingesparte Energie- und Instandhaltungskosten refinanzieren (Abb. 3). Hinzu kommen weitere kostensenkende Faktoren wie eingesparte CO2-Kosten, Planungssicherheit, höhere Qualität, eine schnellere Umsetzung und Wertsteigerung. Perspektivisch werden die Kosten für serielle Sanierungslösungen durch Automatisierung, Digitalisierung, Prozessoptimierung und Skaleneffekte weiter sinken.
Mit dem seriellen Sanierungsbonus der Bundesförderung effiziente Gebäude sind serielle Sanierungslösungen bei deutlich schnellerer Umsetzung bereits heute auf dem Kostenniveau konventioneller energetischer Modernisierungen angelangt. Die Förderung besteht aus zinsvergünstigten Krediten von bis zu 150.000 Euro pro Wohneinheit, die zwei bis drei Prozentpunkte unter den marktüblichen Zinskonditionen liegen. Hinzu kommen Tilgungszuschüsse, die sich im günstigsten Fall auf 45 Prozent summieren können, was einer Förderung von 67.000 Euro pro Wohneinheit entspricht.
Klima- und Sozialverträglichkeit ausbalancieren
Im Rahmen von Portfolioanalysen lässt sich immer wieder feststellen, dass Gebäude mit den niedrigsten Nettokaltmieten die höchsten Energieverbräuche aufweisen. Das heißt, Haushalte mit geringem Einkommen sind besonders stark von steigenden Energiekosten belastet. Dementsprechend begrenzt sind die finanziellen Spielräume für Wohnungsunternehmen, die energetische Modernisierung durch Mietanpassungen zu refinanzieren. Hier eröffnet das serielle Sanieren nach dem Energiesprong-Prinzip neue Perspektiven in der klima- und sozialverträglichen Bestandssanierung.
Der klimaneutrale NetZero-Standard sorgt dafür, dass Wohnraum für die Bewohnenden bezahlbar bleibt und sich die Investitionen für die Eigentümer trotzdem rechnen. Über Photovoltaikmodule auf dem Dach und bei höheren Gebäuden auch an Teilen der Fassade erzeugen die Gebäude im Jahresdurchschnitt so viel regenerative Energie, wie die Bewohnenden für Heizung, Warmwasser und Haushaltsstrom benötigen. Im Idealfall wird die Modernisierungsumlage durch Energieeinsparungen von bis zu 90 Prozent und einem dauerhaft günstigen Mieterstrom ausgeglichen. Trotz erhöhter Kaltmiete soll die finanzielle Belastung der Mieterinnen und Mieter unterm Strich nicht höher sein als vorher.
Dass dieses Ziel nahezu erreicht wird, zeigt ein serielles Sanierungsprojekt der Vonovia in Witten. Die Bewohnenden der 112 Wohnungen werden nach der Sanierung eine Modernisierungsumlage von zwei Euro pro Quadratmeter zahlen, auf der anderen Seite aber 1,60 Euro an Energie- und Warmwasserkosten einsparen. Die Mehrbelastung beträgt derzeit noch 40 Cent pro Quadratmeter. Vor dem Hintergrund stetig steigender CO2-Preise und perspektivisch sinkender Sanierungskosten ist eine mietkostenneutrale Sanierung somit prinzipiell möglich.
Umsetzung starten
Serielles Sanieren denkt energetische Modernisierung neu. Das gilt auch für die Vergabe. So ersetzt eine funktionale Leistungsbeschreibung die bei einer klassischen Sanierung übliche bauteilbasierte Ausschreibung mit einem detaillierten Leistungskatalog. In der Regel wird die serielle Sanierung zu einem Festpreis an den Anbieter mit der überzeugendsten Gesamtlösung vergeben.
Die millimetergenaue Vermessung der zu sanierenden Gebäude per 3-D-Laserscan und Drohnentechnik bildet den Startpunkt eines Projekts. Aus den verdichteten Messdaten wird ein BIM-Modell generiert. Dieser digitale Zwilling dient als Planungsgrundlage für die Produktentwicklung und Vorfertigung der Dach-, Fassaden- und Technikmodule. Die Fassadenelemente werden inklusive Dämmung, Fenstern, Lüftung, Leerrohren und gewünschter Oberfläche im Werk passgenau in gleichbleibend hoher Qualität vorgefertigt.
Im Anschluss werden die maßgeschneiderten Elemente per Tieflader zur Baustelle transportiert und am Gebäude montiert (Abb. 4). Ebenfalls vorgefertigt sind Haustechnikmodule, die vor Ort nur noch angeschlossen werden müssen. Auch in die Fassadenelemente integrierte TGA-Lösungen sind möglich.
Mieterinnen und Mieter motivieren
Energie, Emissionen und Energiekosten dauerhaft zu senken, ist eine Herausforderung, die nur gemeistert werden kann, wenn jeder seinen Beitrag leistet. Erst dann können technische Maßnahmen ihr volles Potenzial entfalten. Den Mieterinnen und Mietern kommt dabei eine entscheidende Rolle zu. Denn mit ihrem Verhalten tragen sie wesentlich zur Energie- und CO2-Einsparung bei.
Vieles, was über Jahrzehnte normal war, ist nach der Sanierung anders. Ein hochgedämmtes Gebäude mit einer Wärmepumpe erfordert ein verändertes Heiz- und Lüftungsverhalten. Das muss den Mietenden mithilfe von Informationsveranstaltungen, Flyern oder Erklärvideos erläutert werden. Empfehlenswert ist es, die sanierten Gebäude mit smarter Mess- , Steuer- und Regelungstechnik auszustatten. Eine Reporting-Funktion, die die Verbrauchskennzahlen im Zeitverlauf übersichtlich darstellt ist optimal, um Mieterinnen und Mieter zu motivieren, ihren Energieverbrauch zu kontrollieren und das eigene Heizverhalten entsprechend anzupassen.
Voneinander lernen
Serielles Sanieren verändert nicht nur den Planungs- und Bauprozess, sondern auch die Art der Zusammenarbeit. Damit die gesamte Branche aus den Erfahrungen der Pilotprojekte lernen kann, gilt es neue Formen des partnerschaftlichen Planens und Bauens entlang der gesamten Wertschöpfungskette zu etablieren – zwischen den Disziplinen und ebenso zwischen Unternehmen, die miteinander im Wettbewerb stehen (Abb. 5).
Aus den Best Practices und Lessons Learned jedes Einzelnen können alle lernen – und mit diesem gebündelten Wissen schneller vorankommen. Wie das konkret aussehen kann, zeigt das Innovationsprojekt S3, das die Dena mit dem GdW Bundesverband deutscher Wohnungs- und Immobilienunternehmen und die Energieberatungsfirma Eco2nomy auf den Weg gebracht hat. Wohnungs- und Bauunternehmen erarbeiten Standards, um zu einem besseren Matching zwischen Angebot und Nachfrage zu kommen. Gemeinsames Ziel ist die schnelle, einfache, mieterfreundliche und bezahlbare Dekarbonisierung großer Gebäudebestände.
Die Autorin Ariane Steffen ist im Energiesprong-Team der Deutschen Energie-Agentur für Pilotkommunikation, Publikationen und Presse zuständig.