Wie verteilen sich Aerosole in Innenräumen?
Beim Ausatmen und Sprechen werden Tröpfchen und Aerosole unterschiedlicher Größe ausgestoßen. Größere Tröpfchen (rot) sinken nach unten ab. Kleinere Tröpfchen (gelb, grün, blau) steigen zunächst nach oben, denn die Körperwärme erzeugt eine Auftriebsströmung. Verschiedene Schutztypen von Mund-und-Nasen-Bedeckungen verhindern die Ausbreitung in unterschiedlichem Maße. Das Bild zeigt die Simulationen im Vergleich – eine partikelfiltrierende Maske (FFP2/N95), eine medizinische Gesichtsmaske (OP-Maske), ein Gesichtsvisier (Faceshield) und ganz ohne Schutz.
Wie verbreiten sich infektiöse Aerosole in Supermärkten, Flugzeugen und anderen Innenräumen, in denen viele Menschen aufeinandertreffen? Dies untersuchen Forscherinnen und Forscher aus 15 Fraunhofer-Instituten und Einrichtungen im Projekt »AVATOR«. Das Fraunhofer-Institut für Techno- und Wirtschaftsmathematik ITWM ist mit an Bord und entwickelt dazu einen Multiskalen-Simulator, mit dem die Aerosolausbreitung in Innenräumen berechnet werden kann.
Rechtzeitig zum Sommer sind die Inzidenzen gesunken, allerorts sind Lockerungen spürbar. Viele Menschen nutzen dies, um endlich einmal wieder in den Flieger zu steigen und Urlaub in anderen Gefilden zu genießen. Doch zwingt die Delta-Variante zu erneuter Vorsicht in der Corona-Pandemie. Abstandhalten und Maskentragen sind daher nach wie vor angesagt. Während die Ansteckungsgefahr im Außenbereich recht gering ist, können sich die infektiösen Aerosole in Innenräumen leicht ansammeln und zu Ansteckungen führen. Wie verbreiten sich diese Aerosole, und wie hoch ist das Ansteckungsrisiko in Flugzeugen, Supermärkten, Klassenräumen und Co?
Wie verteilen sich die Aerosole? So wird gerechnet
Insgesamt 15 Fraunhofer-Institute und -Einrichtungen sind an dem Projekt »AVATOR Anti-Virus-Aerosol: Testing, Operation, Reduction« beteiligt. Auch die Forschenden des Fraunhofer ITWM bringen ihr Wissen mit ein: »Wir entwickeln einen dynamischen Multiskalen-Simulator, der die Aerosolausbreitung in Innenräumen berechnet. Als Szenarien betrachten wir unter anderem Transportmittel, wie zum Beispiel das Flugzeug«, so Dr. Christian Leithäuser der Abteilung »Transportvorgänge«. Die Methodik des Multiskalen-Simulators basiert dabei auf der institutseigenen gitterfreien Simulationssoftware MESHFREE, mit welcher dynamische Strömungsszenarien abgebildet werden können. Besonders hilfreich erweist sich auch die Erfahrungen im Bereich der Modellierung und Simulation von Filtern, sagt Dr. Ralf Kirsch, Teamleiter »Filtration und Separation« der Abteilung »Strömungs- und Materialsimulation«.
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des Fraunhofer ITWM arbeiten abteilungsübergreifend an dem Projekt und können, dank des Multiskalen-Ansatz, auch feine Details in Langzeitbetrachtungen einfließen lassen – beispielsweise die Art der individuellen Schutzausrüstung.
Zusammenarbeit der Institute erweitert die Forschungsmöglichkeiten
AVATOR zeichnet sich unter anderem durch die effektive Kooperation mehrerer Fraunhofer-Institute aus. Das Besondere: die Forschenden arbeiten nicht mit einer einzigen Simulationsmethode, sondern erstellen an den beteiligten Instituten Simulationen durch unterschiedliche Verfahren und Detaillierungsgrade über lange Zeiträume. »Wir erstellen unterschiedlich skalierte Simulationen, die wir je nach Fragestellung zu einer Simulationskette zusammensetzen können«, konkretisiert Prof. Dr. Gunnar Grün, stellvertretender Leiter des Fraunhofer-Instituts für Bauphysik IBP und Gesamtprojektleiter. Um die Simulationen zu validieren, gleichen Expertenteams sie mit Messdaten aus der Flugzeugkabine des Fraunhofer IBP ab. Hier lassen sich die auftretenden Raumluftströmungen optimal untersuchen und Simulationen sinnvoll verknüpfen.
Wie die Agentensimulation Bewegung berücksichtigt
Noch einmal komplizierter wird die Situation, wenn sich die Menschen nicht nur unbewegt in den Räumlichkeiten aufhalten, sondern in ihnen umherlaufen. Auch dies haben die Fraunhofer-Forscherinnen und -Forscher in ihren Berechnungen berücksichtigt – mit einem Agentenwerkzeug, das Fraunhofer Singapur entwickelt hat. Wer läuft wo lang? Auf wen trifft dabei die Person? Das Fraunhofer IGD und das Fraunhofer EMI wiederum liefern die entsprechenden Raumströmungssimulationen.
Welche Luftverwirbelungen treten durch die Bewegung auf? Um dies für alle Begegnungen zu simulieren, fehlt schlicht die Rechenkapazität. Deshalb wählt Fraunhofer Austria mit Methoden des Maschinellen Lernens repräsentative Situationen aus, die dann an die Strömungssimulation weitergereicht werden. Durch diesen zielgerichteten Einsatz von Künstlicher Intelligenz wird die agentenbasierte Strömungssimulation erst handhabbar. Wie sich die Aerosole in einem Supermarkt verteilen, in dem sich verschiedene Menschen bewegen, hat das Konsortium bereits beispielhaft berechnet. Natürlich lässt sich das Modell auch auf Flugzeuge, Klassenzimmer und andere Räume übertragen.
Aus den Simulationen lässt sich für konkrete Räume ableiten, wie sich die Aerosole verteilen. Wie viele Viren atmet beispielsweise eine Person im Flugzeug ein, wenn ein Infizierter eine Reihe weiter vorne sitzt? Anhand zweier Risikomodelle, die gemeinsam vom Fraunhofer IFF und Fraunhofer ITEM evaluiert werden, kann das jeweilige Infektionsrisiko bewertet und der Einfluss verschiedener Schutzmaßnahmen eingeschätzt werden.
Tragen von FFP2-Masken schützt zu 95%
»Durch Verknüpfung der verschiedenen Modelle können wir so sehr gut erkennen, dass bereits das Tragen von FFP2-Masken in einer Flugzeugkabine die Exposition um mehr als 95 Prozent senkt und damit auch das Infektionsrisiko«, nennt Grün beispielhaft eines der Ergebnisse. Das exakte Risiko hängt natürlich von verschiedenen Faktoren ab: Dem genauen Abstand zur infizierten Person etwa, der Anzahl infektiöser Viren sowie der Aufenthaltsdauer im Innenraum. Aus den Daten der Risikobewertung wiederum leiten die Projektbeteiligten sinnvolle Hygienemaßnahmen ab und prüfen ihre Wirksamkeit. Technologien der Raumluftreinigung sowie der Validierung ihrer Wirksamkeit stehen daher ebenso im Fokus der Entwicklungen im Projekt AVATOR.
Hintergrundinformation
Das Projekt AVATOR wurde mit Mitteln aus dem Sofortprogramm »Anti-Corona« der Fraunhofer-Gesellschaft gefördert. Das Projektkonsortium besteht aus den Fraunhofer-Instituten:
Fraunhofer-Institut für Bauphysik IBP
Fraunhofer-Institut für Kurzzeitdynamik, Ernst-Mach-Institut, EMI
Fraunhofer-Institut für Techno- und Wirtschaftsmathematik ITWM
Fraunhofer-Institut für Chemische Technologie ICT
Fraunhofer-Institut für Betriebsfestigkeit und Systemzuverlässigkeit LBF
Fraunhofer-Institut für Angewandte Polymerforschung IAP
Fraunhofer-Institut für Mikrotechnik und Mikrosysteme IMM
Fraunhofer-Institut für Toxikologie und Experimentelle Medizin ITEM
Fraunhofer-Institut für Fabrikbetrieb und -automatisierung IFF
Fraunhofer-Institut für Physikalische Messtechnik IPM
Fraunhofer-Institut für Graphische Datenverarbeitung IGD
Fraunhofer Singapore
Fraunhofer Austria
Fraunhofer-Institut für Fertigungstechnik und Angewandte Materialforschung IFAM
Fraunhofer-Institut für Grenzflächen- und Bioverfahrenstechnik IGB