Plattenbausanierung: DDR-Relikt wird energieautarkes Mehrfamilienhaus
Steigende Nebenkosten machen Mietern, aber auch Gebäudeeigentümern schon seit Jahren zu schaffen. Erst die Stromkosten, die sich in den vergangenen 20 Jahren mehr als verdoppelt haben, und seit der durch Russlands Krieg gegen die Ukraine hervorgerufenen Gaskrise auch die Heizkosten. Einen neuen Weg schlägt deshalb die Ascherslebener Gebäude- und Wohnungsgesellschaft (AGW) ein. Im März 2022 hat das städtische Wohnungsunternehmen begonnen, einen von drei Plattenbauten in der Kopernikusstraße im Königsauer Viertel in Aschersleben zu einem größtenteils solar versorgten Mehrfamilienhaus umzubauen. Anfang Mai 2023 hat sie das Vorzeigeprojekt eingeweiht.
Aschersleben befindet sich südlich von Magdeburg am nordöstlichen Rand des Harzes und ist die älteste urkundlich erwähnte Stadt Sachsen-Anhalts. Aufgrund ihrer besonderen Lage wird sie gerne als das Tor zum Harz bezeichnet. Künftig könnte sie als Wegbereiterin einer zukunftsweisenden Sanierungsmethode bekannt werden. Denn das Vorhaben des städtischen Unternehmens kann mit einigen Neuerungen punkten. So können sich die künftigen Mietern auf eine Pauschalmiete inklusive der Energiekosten für Strom, Wärme und Elektromobilität freuen.
Infrarotheizung reduziert Investitionskosten
Möglich machen das Photovoltaikmodule auf dem Dach und an drei Fassaden, die günstigen Strom erzeugen – nicht nur für die Haushaltsgeräte, sondern auch für ein Carsharing-Elektroauto und die an den Zimmerdecken montierten Infrarotheizungen. Mit dem Konzept kann die AGW die Investitionskosten für das Heizsystem stark reduzieren, und die Kosten für Wartung und Reparaturen langfristig niedrig und planbar halten. Um Abschläge oder hohe Nachzahlungen müssen sich die Bewohnern nicht mehr sorgen.
Mit neuer Energie gegen den Wohnungsleerstand
Der Plattenbau hatte schon lange auf der Liste für die energetische Sanierung gestanden. Zwar waren in den Jahren zuvor bereits neue Fenster eingebaut und die elektrische Anlage erneuert worden, das Gebäude blieb aber ungedämmt. Trotzdem: „Zum Abreißen viel zu schade“, befanden AGW-Geschäftsführer Mike Eley und sein Team. Denn die Bausubstanz war auch nach 50 Jahren noch gut erhalten.
Dennoch sah das Konzept einen Rückbau von fast zwei Dritteln der Wohneinheiten vor und damit eine Reduzierung der Wohnfläche um 41 Prozent. Die AGW ließen die oberen beiden Etagen und das Eingangssegment abbrechen, baute stattdessen ein Dachgeschoss auf. Von 60 Wohneinheiten blieben nach der Modernisierung 22 übrig. „Wir haben zu viel an Wohnraum, aber wir benötigen eine höhere Wohnqualität, damit nicht noch mehr Menschen abwandern“, begründet Eley das Vorgehen.
Mehr Wohnfläche, weniger Wohnungen
Durch die Reduzierung der Wohnungszahl hat die AGW mehr Wohnfläche innerhalb der einzelnen Wohnungen geschaffen. Die geräumigen Wohnungen mit modernen Zuschnitten und großen Balkonen ermöglichen dem kommunalen Bauträger zufolge ein zeitgemäßes Wohnen. Für alle Wohnungen gibt es einen barrierearmen Zugang über das Souterrain vom Stellplatz aus. Im mittleren Bereich sind die Wohnungen außerdem mit einem Aufzug zu erreichen.
Die AGW sieht sich schon seit langem mit einem wachsenden Leerstand bei ihren Wohnungen konfrontiert. Zwischen 2004 und 2014 hat sie aus diesem Grund den Bestand an Plattenbauten im Stadtgebiet, vor allem aber am Stadtrand, um 1009 Wohnungen reduziert. Die meisten Plattenbauten waren in den siebziger Jahren gebaut worden. Damals war der Zuzug aus den Dörfern hoch, Wohnraum in der Stadt rar. Vor allem junge Familien waren auf der Suche nach 4-Raum-Wohnungen. Die Plattenbauwohnungen boten ihnen einen hohen Komfort.
Die Nachfrage hat sich in den Jahren nach der Wende stark verändert. Plattenbauten sind nicht mehr gefragt. Der Leerstand stellt ein großes Problem in den ländlichen Regionen dar: Die Wohnungen in den Blöcken bleiben oft leer, die Leerstandsquoten der Wohnungsunternehmen steigen stark an.
Deshalb hatte die AGW erwogen, auch die Plattenbauten in der Kopernikusstraße abzureißen und damit wertvolle Bausubstanz und die darin mit hohem Energieaufwand verarbeiteten Baustoffe zu vernichten. Stattdessen hat sie sich für eine zukunftsweisende und zukunftssichere Sanierung entschieden. Als Mieter hat die Wohnbaugesellschaft wieder junge Familien im Sinn. „Wir wollen Kinder in das Quartier holen“, sagt Eley und kann sich vorstellen, dass die Familien die nächsten 50 oder 70 Jahre in ihrem neuen Heim wohnen.
PV und Infrarot: Viel Wohnkomfort, wenig Technik
Einen Großteil der benötigten Energie in der Kopernikusstraße erzeugen Photovoltaikmodule mit 112,5 Kilowatt Leistung, die auf das neue Dach montiert wurden. Zusätzlich sind Solarmodule mit einer Leistung von 71,4 Kilowatt an den Fassaden angebracht. Zusammen sollen sie über die Hälfte des Strom- und Wärmebedarfs decken. Für den Rest wird Ökostrom zugekauft.
Infrarotstrahler an den Decken wärmen die Zimmer, das Wasser für Küche und Bad in den Wohnungen liefert jeweils ein 200-Liter-Pufferspeicher. Seinen flüssigen Inhalt bringen eine mit Solarstrom und eine mit Netzstrom betriebene Heizpatrone auf Temperatur. Die Planer gehen davon aus, dass die Heizung etwa 19% des Strombedarfs ausmachen wird. 37% werden für die Warmwasserbereitung benötigt, 39% für die Haushaltsgeräte, der Rest für den allgemeinen Bedarf.
Vorteile von Infrarotheizungen
Das Konzept der nahezu energieautarken Mehrfamilienhäuser geht auf den Freiberger Solarexperten Timo Leukefeld und das Autarkieteam mit Architekt Klaus Hennecke und Projektsteuerer Jürgen Kannemann zurück. Sie haben die Sanierung in Aschersleben geplant. Warum sie auf Solarenergie und Infrarotheizung setzen, erklärt Leukefeld: „Strom wird künftig immer günstiger, in zehn Jahren kostet Solarstrom nur noch drei Cent pro Kilowattstunde.“ Der Honorarprofessor ist überzeugt, dass künftig allein die Wartungskosten hydraulischer Heizungssysteme die Stromkosten übersteigen werden.
Für Infrarotheizungen führt er eine Reihe von Vorteilen an: Sie benötigen keine Rohrleitungen und müssen nur verkabelt werden, was den Zeitaufwand und die Materialkosten für die Montage deutlich senkt. „Zudem sind Infrarotheizungen über Jahrzehnte wartungsfrei, was bei dem Handwerkermangel und steigenden Stundensätzen langfristig ein enormer Vorteil sein wird.“ Mit Solarstrom vom eigenen Dach und den eigenen Fassaden und eingekauftem Ökostrom könnten sie nicht nur kostengünstig, sondern auch CO2-frei betrieben werden.
Infrarotheizung als sinnvolle Heizlösung in Bestandsgebäuden
AGW-Chef Eley hat das Sanierungsprojekt am 11. Mai 2023 bei der Konferenz „Die Infrarotheizung im Wohnungsbau“ in Würzburg vorgestellt. Das passte gut, denn dort präsentierte auch Professor Joachim Seifert, Bereichsleiter Gebäudeenergietechnik am Institut für Energietechnik der Technischen Universität Dresden, eine Studie, in der er mit seinem Team den Einsatz von Infrarotheizungen in Bestandsgebäuden untersucht hat. „Insgesamt zeigt die Studie, dass durch die Ergänzung eines wasserbasierten Heizsystems mit einer Infrarotheizung ein vorhandenes, für höhere Temperaturen ausgelegtes Heizsystem ohne Austausch der Heizflächen mit niedrigen Systemtemperaturen verwendet werden kann und sich somit gut für eine Kombination mit einer Wärmepumpe eignet“, heißt es im Fazit der Studie „Potenzialbewertung von Infrarotheizungen als Spitzenlastabdeckung“.
Den Forschenden zufolge eignen sich die Infrarotstrahler, um den Verbrauch fossiler Energie kurzfristig zu reduzieren und ein Gebäude bereit für die Installation einer Wärmepumpe zu machen. Bei dieser Vorgehensweise wird zunächst die Vorlauftemperatur der bestehenden Gasheizung gesenkt, die somit nur noch die Grundlast deckt. Wird mehr Wärme benötigt, kann die schnell reagierende Infrarotheizung einspringen. „Dadurch sinkt der Verbrauch von fossilen Brennstoffen, während es im Haus gleichbleibend behaglich bleibt, ohne dass teure und aufwändige Sanierungsmaßnahmen wie neue Heizkörper, Fenster oder Dämmung der Außenwände nötig sind“, heißt es in einer Presseinformation des Branchenverbands IG Infrarot, der die Studie beauftragt hat.
Infrarotheizung im Bestand: Dresdner Studie bestätig Eignung
Das Wissenschaftsteam hat ein Einfamilienhaus mit 160 Quadratmetern beheizter Nutzfläche und einem Wärmedämmstandard nach Wärmeschutzverordnung 1995 simuliert. Die Norm-Heizlast betrug 9,2 Kilowatt, die spezifische Heizlast 57,2 Watt je Quadratmeter. In der Simulation haben die Forschenden die Vorlauftemperatur von 70 auf 40 Grad Celsius abgesenkt, die Rücklauftemperatur von 55 auf 30 Grad Celsius umgestellt. In sieben von zehn Räumen wurden die nun ungeregelten Heizkörper von Infrarotheizungen unterstützt.
Im nächsten Schritt wurde der Niedertemperaturkessel durch eine Luft/Wasser-Wärmepumpe ersetzt. An der Dimensionierung der Heizkörper sowie am Dämmstandard nahm das Wissenschaftsteam keine Änderungen vor. Auf dieser Basis hat es anschließend die Varianten verglichen und den benötigten Endenergiebedarf ermittelt. Ergebnis: Die Infrarotheizung deckte zwischen 26 und 38 Prozent des Nutzenergiebedarfs. Für Seifert stellen elektrische Infrarotheizungen in Kombination mit Wärmepumpensystemen eine technologische Option für den Altbaubereich dar. „Die Erfüllung der Heizaufgabe und der thermischen Behaglichkeit kann mit dieser Systemkombination gewährleistet werden“, lautet das Fazit des Wissenschaftlers.
Speicher helfen, Energieabhängigkeit zu senken
In Aschersleben hilft ein ausgeklügeltes Speicherkonzept, den Plattenbau möglichst energieautark betreiben zu können. Es basiert auf drei Säulen. PV-Akkus halten den tagsüber geernteten Sonnenstrom bis in die Nacht vor. Mittelfristig betrachtet, erfüllen die Warmwasserboiler eine Speicherfunktion, da eine der beiden Heizpatronen nur den überschüssigen Sonnenstrom nutzt. Drittens wird die Speichermasse des Gebäudes, die dicken Betonwände und das neue Mauerwerk, durch die Infrarotheizung aktiviert. Von März bis Oktober werden die Bewohner laut Leukefeld deshalb in der Regel vollständig autark sein.
AGW-Geschäftsführer Eley bezeichnet die Sanierung des ersten Plattenbaus in der Kopernikusstraße als Pilotprojekt. Er will die Ergebnisse daraus analysieren, vor allem natürlich den Stromverbrauch. Entsprechen die Resultate den Erwartungen, wovon Eley ausgeht, will er die anderen beiden Plattenbauten auf dem Gelände ebenfalls zu CO2-freien Mehrfamilienhäusern mit Energieflatrate sanieren lassen. Schließlich sind auch sie zum Abreißen eigentlich zu schade.
Dieser Artikel von Joachim Berner erschien zuerst in Gebäude Energieberater-Ausgabe 05/2023.