Experte: Dämmplatten haben den Hochhausbrand in London nicht beschleunigt
Für den Hochhausbrand des „Grenfell Tower“ in London wird in Deutschland derzeit der Dämmstoff Polystyrol verantwortlich gemacht. Doch dieser wurde dort an der Fassade gar nicht eingesetzt. Stattdessen zeigen sich andere Ursachen.
Dipl.-Ing. Werner Eicke-Hennig, Experte des Energieinstituts Hessen und bis zu seinem Ruhestand 2016 Programmleiter der „Hessischen Energiespar-Aktion“, hat den Brand anhand von Fotos und Filmen analysiert und kommt zu folgenden Erkenntnissen:
Die Fassade des Londoner „Grenfell Tower“ ist keineswegs mit Polystyrol gedämmt, sondern mit Polyurethan-Hartschaum (PU). PU hat ein völlig anderes Brandverhalten als Polystyrol. Da es kein Thermoplast ist, schmilzt es nicht und tropft nicht brennend ab. Die meisten Dämmplatten blieben deshalb in der ansonsten abgebrannten Fassade intakt.
Manche Platten sind vom Brand unberührt, man sieht noch ihre gelbe Farbe. An vielen anderen hat die Hitze eine typische Waffelstruktur auf der Oberfläche erzeugt. In eine solche Platte hat die Feuerwehr zwei Löcher geschabt. Einige Bilder der Brandkatastrophe zeigen: Die Platten sind nur an der Oberfläche 3 bis 5 mm durch die Hitze etwas aufgelöst und rußgeschwärzt. Die gesamte übrige Plattendicke (6 bis 8 cm) ist unzerstört geblieben, weil die gute Dämmwirkung des Polyurethans eine Weiterleitung der Hitze in die Platte hinein unterbindet.
Diese PU-Sorte ist deshalb sogar als Brandriegel in WDVS-Systemen zugelassen. Die Dämmplatten haben den Brand also nicht „beschleunigt“, wie es nun überall heißt, sondern sich als einer der wenigen Fassadenbaustoffe erwiesen, die sich am Brand kaum beteiligten.
Auffälligkeiten beim Wetterschutz
Stattdessen ist der äußere Wetterschutz aus Aluminium-Kunststoff-Verbundplatten völlig verschwunden. Die wenige Millimeter dicken Alu-Platten sind abgebrannt. Aluminium schmilzt bei 660 °C und brennt. Wird es mit Wasser gelöscht, entsteht bei hohen Temperaturen sogar brennender Wasserstoff. Auf den Filmen segeln erkennbar brennende Alu-Tafeln durch die Luft. Die sichtbaren Ereignisse an der Fassade gehen auch auf die brennende Alu-Außenbekleidung zurück.
Erschwerend kommt der Fassadentyp hinzu. Es handelt sich vermutlich um eine Leichtbaufassade (Curtain Wall). Sie besteht aus einer dünnen inneren Bekleidung mit einer Luftdichtungsfolie, der tragenden Metallrahmenkonstruktion, zwischen der die Dämmelemente eingebaut sind und einer äußeren Aluminiumverkleidung (Wetterschutz). Die metallene Tragkonstruktion verbiegt sich bei Hitze schnell. Durch die klaffenden Fugen können Flammen und die Zimmerbrände anheizender Sauerstoff leicht eindringen, zumal auch überall die Fenster schnell zerstört waren.
Weitere Infos zum Hochhausbrand in London finden Sie unter www.geb-info.de unter Webcode 1380 sowie in der Ausgabe 7/8 2017 der Zeitschrift "Gebäude Energieberater", die am 28. Juli 2017 erscheint.
Ähnlichkeiten zum Hochhausbrand in Sao Paulo
Aber woher kommen diese gewaltigen Flammen? Die Gewalt von Zimmerbränden wurde bereits 1974 beim Brand eines 25 Stockwerke hohen Hochhauses in Sao Paulo sichtbar, einem ungedämmten Gebäude in Massivbauweise (Film).
Der Brand entstand an einer Kleinklimaanlage im 12. Stock. Er verbreitete sich in Windeseile auf der gesamten 12. Etage. Das Feuer verzehrte in fünf Stunden die gesamte Inneneinrichtung auf 13 Etagen. Das Gebäude brannte bis zum 25. Stock aus, denn die Flammen schlugen nach wenigen Minuten aus den Fenstern und kletterten über die zerstörten Fenster der darüber liegenden Stockwerke nach oben, indem sie immer wieder die Möbel auf den Etagen in Brand setzten. Die Flammhöhen der Feuerwalzen aus den Fenstern lagen bei 5 bis 6 m und höher.
Dämmstoffe oder brennende Fassadenteile waren am Brand nicht beteiligt! 179 Tote musste die Feuerwehr zum Schluss zählen. Das Gebäude sah nach dem Brand nicht viel anders aus, als das Londoner Hochhaus. Man erkennt ein typisches Brandverhalten hoher Gebäude, auch bei nicht brennbaren Fassaden, den der damalige Frankfurter Feuerwehrchef Ernst Achilles auch stets in einem Hochhausvortrag beschrieb: Der Brand arbeitet sich über die Fenster und im Innern durch die Treppenhäuser und alle nichtabgeschotteten Schächte schnell nach oben, bis ihn die Feuerwehr stoppt.
Nicht vorschnell urteilen
In London hat wohl nicht der Dämmstoff, sondern möglicherweise der brennbare Wetterschutz diesen Prozess beschleunigt. Aber Vorsicht beim Urteil, denn Brände haben einen komplexen Verlauf: Im Innern des Londoner Gebäudes war eine Gasleitung gebrochen, auch Gas war also an diesem Brand beteiligt.
Diesen komplexen inneren und äußeren Brandablauf kann man nicht auf den Fassadendämmstoff reduzieren. Zu dem von Achilles beschriebenen gefährlichen Brandüberschlag aus den Fenstern trug die Frankfurter Feuerwehr 2007 auf einem Mainova-Hochhaussymposium vor: „Die Forderung nach einer 1 m (hohen, d. Verf.) feuerbeständigen Brüstung ist wirkungslos.“ Heute behauptet man ohne Beweis etwas völlig anderes. Deshalb empfehlen wir, den Bericht der Londoner Feuerwehr über die Brandursachen abzuwarten. Hier geben wir nur eine erste Einschätzung auf Grundlage der Bildquellen und Filme, sowie Hintergrundinformationen aus der Technik.
Es sei zum Schluss noch geklärt: In Deutschland können normal oder schwer entflammbare Dämmstoffe auf Hochhausfassaden nicht verbaut werden, hier sind nur nichtbrennbare Materialien zugelassen und wird der Brandschutz durch Sprinkleranlagen, Sicherheitstreppenhäuser, Feuerwehrfahrstühle usw. unterstützt.“
Das Energieinstitut Hessen hat außerdem Quellen für weitere Informationen zu Bränden zusammengestellt: