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Klimaneutralität erst 2075? Anforderungen für den klimaneutralen Gebäudebestand

Einen zentralen Hebel stellt dabei der Gebäudesektor dar, der entlang des gesamten Lebenszyklus erhebliche Emissionen verursacht. Vor allem der Reduktion von Nutzungsemissionen, primär getrieben durch Raumwärme, kommt dabei eine tragende Rolle zu.

Will man den CO2-Ausstoß in diesem Segment verringern, gibt es zwei wesentliche Hebel. Einerseits muss die Wärmeerzeugung elektrifiziert werden, also z. B. durch den Einsatz von Wärmepumpen anstelle von Heizungen, welche mit fossilen Brennstoffen betrieben werden. Anderseits kann durch den Einsatz zusätzlicher Dämmung der Gebäudehülle der Energiebedarf für die Wärmeerzeugung gesenkt werden. Die größten Stellschrauben bieten hierbei die Gewerke Heizung, Dach, Fassade und Fenster. Deutschland verfolgt beide Ansätze, weshalb das Ziel der Klimaneutralität ohne umfassende Sanierung nicht realisierbar ist. Die auf die Baubranche spezialisierte Strategie- und M&A-Beratung S&B Strategy hat berechnet, dass hierzu mit Investitionen von mindestens 1.200 Milliarden Euro zu rechnen sind.

„In Europa und vor allem in Deutschland gehen wir einen Sonderweg, denn wir fokussieren uns nicht nur auf die Elektrifizierung der Wärmeerzeugung und die CO2-Reduktion der Stromerzeugung, sondern zusätzlich noch auf die Reduktion des Energiebedarfs durch den Einsatz von Dämmungen“, sagt Christoph Blepp, Managing Partner bei S&B Strategy.

„Das wirkliche Nadelöhr liegt in der begrenzten Angebotskapazität. Es fehlen schlichtweg die erforderlichen Handwerker, um die Sanierungsarbeiten umfänglich durchzuführen. Damit bedrohen die Kapazitätsengpässe im Handwerk die gesamte Klimastrategie Deutschlands“, so Fabio P. Meggle, Manager und Co-Autor der Studie Kimaneutralität erst 2075+?.

Die Lösung kann laut S&B Strategy nicht „mehr Personal“ sein, ist aber umso anspruchsvoller: Die Produktivität im Bausektor muss drastisch gesteigert werden. Der Schlüssel dazu sind vor allem die Ausweitung der Vorkonfektionierung sowie die Schaffung neuer Geschäftsmodelle. Durch vorgefertigte Module und effiziente End-to-End Prozesse kann die geleistete Anzahl an Projekten je Handwerker erhöht und der Sanierungsprozess beschleunigt werden.

Sanierungsquote viel zu gering, um die ambitionierten Ziele in der Gebäudesanierung zu erreichen

Rund 15,7 Mio. Wohngebäude in Deutschland wurden seit ihrer Errichtung nicht oder nur teilweise energetisch saniert. Im Bereich der Nicht-Wohngebäude liegt der Anteil der vor 2001 errichteten und damit potenziell sanierungsbedürftigen Gebäude bei rund 86 % bzw. rund 1,7 Mio. Gebäuden. Allein durch die energetische Sanierung der Gebäudekomponenten Fassade, Dach, Fenster und Heizung können jedoch rund zwei Drittel des CO2-Einsparpotenzials realisiert werden. Allerdings fehlt neben der finanziellen Incentivierung schlichtweg das Personal, um die Sanierungen anzugehen.

„Wir bewegen uns außerhalb eines normal funktionierenden Marktes. Grundsätzlich gibt es neben den hohen Energiekosten wenig Gründe, warum jemand seine Heizung, Fassade, das Dach, die Fenster usw. erneuern sollte und dafür über 100.000 € investieren sollte. Selbst eine Förderung von bis zu 70 % lässt dann noch einen hohen Selbstbeteiligungsbetrag offen. Durch die Bedrohung durch den Klimawandel haben wir aber ein gesellschaftliches Interesse, die Klimaneutralität im Gebäudesektor so schnell wie möglich zu erreichen“, analysiert Florian Moll, Senior Manager bei S&B Strategy. „Wir sprechen von einer sehr hohen Summe, die vom Steuerzahler getragen werden muss. Trotzdem bleibt die größte Herausforderung, dass wir selbst unter den günstigsten Bedingungen unsere Ziele erreichen“, ergänzt er.

Zentraler Hebel ist laut S&B Strategy eine deutliche Steigerung der Produktivität in der Gebäudesanierung, denn das Handwerk kann schlichtweg nicht den Bedarf an Personal decken, den es bräuchte. Nach Berechnungen der Studienautoren dauert es unter aktuellen Bedingungen zum Beispiel noch über 100 Jahre, bis alle zu sanierenden Fassaden in Deutschland energetisch saniert sind. „Bei Fenstern und Wärmepumpen sind wir auf einem guten Weg, hier wurde schon viel angestoßen und mit großen Kraftanstrengungen sind die Sanierungsziele bei diesen beiden Gewerken zwar sehr ambitioniert, können aber erreicht werden“, so Christoph Blepp. „Bei Dach und Fassade sind wir jedoch meilenweit von einem Szenario entfernt, die Sanierungsziele bis 2045 zu schaffen.“

Produktivität als zentraler Hebel

Laut S&B Strategy muss deshalb deutlich in die Steigerung der Produktivität investiert werden, denn nur so sei der Output pro Handwerker auf der Baustelle zu erhöhen. Gleichzeitig müssten hierfür Politik, Gesellschaft und Wirtschaft an einem Strang ziehen, denn in vielen Fällen bestehen regulatorische Hürden, Produktivitätssteigerungen im Bau wirklich zu realisieren, z. B. aus Gründen der Qualitätssicherung, Normen, Bauvorgaben etc.

„Alle sind hier gefragt, denn das Handwerk allein wird es nicht schaffen. Viele Bauzulieferer arbeiten bereits an Lösungen, welche bspw. die Zeit, welche für die Installation von Heizungen oder Fassaden gebraucht wird, deutlich verringert haben“, so Fabio P. Meggle.

Doch bis dahin ist es noch ein beschwerlicher Weg: „Die Bauindustrie ist unglaublich fragmentiert und durchzogen von Normen, Regularien, Interessen großer Stakeholder in Wirtschaft und Politik. Wir brauchen einen neuen Modus, um Sanierung und Neubau eigentlich komplett neu zu denken und zu realisieren. Gleichzeitig steigt der Nachfragedruck mit jedem Jahr, das uns näher an 2045 bringt. Faktisch müssen wir eine Operation am offenen Herzen an mehreren Patienten durchführen, die gerade einen Marathon laufen. Nichts ist unmöglich, aber ich bezweifle, dass wir diese Aufgabe mit diesem Modus in etwas über 20 Jahren meistern können“, ergänzt Christoph Blepp.

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