Weniger Geringverdiener: Lohnschere schließt sich langsam
Gerade das unterste Dezil, also die zehn Prozent der Beschäftigten mit den geringsten Stundenlöhnen, verzeichnete mit der Einführung des Mindestlohns 2015 einen überdurchschnittlichen Anstieg, was die Lohnungleichheit spürbar zurückgehen ließ.
Zudem gibt es erste Anzeichen dafür, dass der Niedriglohnsektor langsam schrumpft. Das zeigt eine aktuelle Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin), für die die DIW-ÖkonomInnen Alexandra Fedorets, Markus M. Grabka, Carsten Schröder und Johannes Seebauer Daten des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP) für die Jahre 1995 bis 2018 ausgewertet haben.
Zugrunde liegt jeweils der vereinbarte Bruttostundenlohn in einer Haupttätigkeit - also das Bruttomonatsgehalt dividiert durch die vereinbarte Arbeitszeit.
Gesetzlicher Mindestlohn sorgt für Abnahme der Ungleichheit
„Die steigenden Bruttostundenlöhne gerade bei den Geringverdienenden haben in den letzten Jahren dazu geführt, dass die Lohnungleichheit in Deutschland abgenommen hat“, sagt Studienautor Markus M. Grabka. „Der starke Anstieg der Lohnungleichheit Ende der neunziger Jahre bis 2006 wurde insbesondere durch die sinkenden Stundenlöhne in den beiden unteren Lohndezilen getrieben.“ Danach stagnierte die Ungleichheit bis zum Jahr 2013 auf hohem Niveau. Seitdem ist sie rückläufig und liegt inzwischen wieder auf dem Niveau von Beginn der 2000er Jahre.
Vor allem in der unteren Hälfte der Lohnverteilung geht die Ungleichheit im Zeitraum von 2006 bis 2018 zurück – zwischen dem untersten Dezil und dem mittleren Lohn (Median) um zwölf Prozent. Besonders ausgeprägt ist die Abnahme von 2014 auf 2015, als der gesetzliche Mindestlohn eingeführt wurde.
Mindestlohn wird nicht immer gezahlt
Gleichzeitig deuten die SOEP-Daten erstmals darauf hin, dass der Niedriglohnsektor schrumpft. Zwischen 2015 und 2018 sank der Anteil der Niedriglohnbeschäftigten – gemessen an ihren Bruttostundenlöhnen – von 23,7 auf 21,7%. Es sind aber mithin immer noch 7,7 Millionen Beschäftigte, die weniger als zwei Drittel des Medianlohns bekommen.
Im Niedriglohnsektor erhielten den Daten zufolge auch im Jahr 2018 auf Basis des vereinbarten Stundenlohns rund 2,4 Millionen Beschäftigte noch keinen Mindestlohn. Zieht man den tatsächlichen Stundenlohn, also inklusive Überstunden heran, sind es sogar 3,8 Millionen Beschäftigte. Das deutet darauf hin, dass der Mindestlohn häufig auch mit Hilfe von Überstunden umgangen wird.
Unbezahlter Mehrarbeit entgegenwirken
„Unsere Beobachtung der fallenden Ungleichheit bezieht sich auf Stundenlöhne“ erläutert Wissenschaftlerin Alexandra Fedorets die Ergebnisse. „Damit sich dieser Trend auch in Monatslöhnen widerspiegelt, wäre es wichtig, dass über die Zeit hinweg die bezahlte Arbeitszeit gerade im Niedriglohnsektor nicht zurückgeht.
Dazu würde beitragen, dass alle Überstunden, die diese Beschäftigten leisten, auch bezahlt werden.“ Daher begrüßen die AutorInnen der Studie den Vorstoß der Bundesregierung zur effektiveren Kontrolle der Arbeitszeiten. Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales bereitet derzeit als Reaktion auf ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs einen Gesetzentwurf zur verpflichtenden Erfassung der Arbeitsstunden vor.
„Die vom Europäischen Gerichtshof geforderte systematische Erfassung der Arbeitszeit wäre ein wichtiger Schritt, unbezahlter Mehrarbeit bei Mindestlohnempfängern entgegenzuwirken“, sagt Johannes Seebauer.
Hintergrund: Wie wird Ungleicheit gemessen?
In der Diskussion um Ungleichheiten werden verschiedene Einkommensarten herangezogen: Zum Beispiel das Haushaltseinkommen, der Brutto- oder Nettomonatslohn sowie der Stundenlohn. Diese Größen können in demselben Zeitraum unterschiedliche Entwicklungen aufweisen. Das liegt nicht nur an Unterschieden der Größen selbst, sondern auch an den zugrundeliegenden Personengruppen.
Tatsächlich unterscheidet sich die im vorliegenden Wochenbericht beschriebene Entwicklung der Ungleichheit der vereinbarten Bruttostundenlöhne in Haupttätigkeit zum Beispiel von der im DIW-Wochenbericht Nr. 19/2019 untersuchten Entwicklung der bedarfsgewichteten Haushaltsnettoeinkommen. Bei den letztgenannten gibt es seit der Finanzmarktkrise Anzeichen für einen Wiederanstieg der Ungleichheit.
Analyse zeigt, wie sich Situation in Privathaushalten ändert
Die Untersuchung im vorliegenden Bericht behandelt Unterschiede in den individuellen vereinbarten Bruttostundenlöhnen in Haupttätigkeit. Es geht im Kern um Unterschiede bei der Entlohnung einer Arbeitsstunde. Die Analyse der bedarfsgewichteten Haushaltsnettoeinkommen beschreibt dagegen, wie sich die materielle Situation in Privathaushalten über die Zeit verändert.
Dabei liegt ein breites Einkommenskonzept zugrunde, das Löhne, Einkommen aus Selbständigkeit, Kapitalerträge, staatliche Transfers, Alterseinkommen, private Transfers und den Mietwert selbstgenutzten Wohneigentums aller Haushaltsmitglieder enthält. Zudem spiegelt das Konzept die Effekte des Steuer- und Transfersystems wider.
Nicht alle Populationen werden einbezogen
Auch die untersuchten Populationen unterscheiden sich grundlegend. Im WB 19/2019 wurden alle Personen in Privathaushalten betrachtet, also – im Gegensatz zum vorliegenden Bericht – auch Rentner, Kinder oder Nichterwerbstätige.
Einen relevanten Einfluss auf die Veränderung der Ungleichheit der bedarfsgewichteten Haushaltsnettoeinkommen über die Zeit hat auch die Migration. Seit 2010 ist die Zahl der Ausländer in Deutschland um mehrere Millionen gewachsen. Nur wenn diese auch im Arbeitsmarkt angekommen sind, werden sie in der Verteilung der des Bruttostundenlohns repräsentiert.