Quartierskonzepte: Neue Betätigungsfelder für Energieberater
Der Klimawandel wird die Lebensbedingungen in deutschen Städten signifikant verändern. Er ist jedoch nicht nur ein Phänomen der Zukunft. Bereits heute sind Konsequenzen des Klimawandels in deutschen Kommunen spürbar. Zahlreiche Städte in Deutschland und weltweit rufen derzeit den „Klimanotstand“ aus: Von Kiel über Konstanz bis hin zu Vancouver zeigen Städte mit diesem Schritt, wie akut der Handlungsbedarf ist.
Deshalb ist es wichtig, städtische Quartiere fit für die Zukunft zu machen. Dabei muss der Blick über das einzelne Gebäude hinausgehen und die einzelnen Elemente des Quartiers müssen im Kontext betrachtet werden.
Herangehensweisen wie Vernetzung, Kooperation und die Nutzung von Synergien sind hierbei elementar. Experten in den Bereichen Beratung, Planung und Gestaltung müssen dementsprechend offen sein für disziplinübergreifendes Arbeiten und sollten bei ihrer Tätigkeit konsequent einen Blick auf das „große Ganze“ behalten.
Abb. 1: Die Themen Klimafolgenanpassung und Biodiversität rücken aktuell verstärkt in den Fokus. Ein Aspekt ist dabei die Begrünung von Dächern und Fassaden. Die Stadt Hamburg hat hierzu u. a. eine eigene Kampagne mit Investi-tionsförderung aufgelegt. Mehr Infos unter www.hamburg.de/gruendach
Energetische Stadtsanierung: Potenziale im Quartier nutzen
Mit dem 2011 gestarteten KfW-Programm „Energetische Stadtsanierung“ wird der energetische Sanierungsprozess vom Einzelgebäude hin zum Quartier erweitert.
Die Quartierskonzepte und das Sanierungsmanagement, das Planung und Realisierung der in den Konzepten vorgesehenen Maßnahmen begleitet und koordiniert, leisten zur Steigerung der Energieeffizienz der Gebäude und der Infrastruktur einen wichtigen Beitrag.
Durch die Verknüpfung unterschiedlicher Handlungsansätze eröffnet die energetische Stadtsanierung vielfältige Möglichkeiten, um weitere Ziele der integrierten Stadtentwicklung voranzubringen.
So können Maßnahmen zur energieeffizienten Sanierung des Gebäudebestands mit solchen klimagerechter Mobilität, der Reduzierung von Barrieren sowie Grün- und Freiraumentwicklung zusammen gedacht werden.
Im Sinne einer „Kultur der energetischen Stadtsanierung“ sollen integrierte und ganzheitliche Strategien zum Standard einer nachhaltigen Stadt- und Regionalentwicklung für eine zukunftsfähige Entwicklung von Quartieren und klimabewusstem Verbrauchsverhalten werden.
Die genauen Fragestellungen sowie geplanten Arbeitsbausteine werden durch die Kommune bereits im Rahmen der Antragsstellung bei der KfW in der sogenannten Projektskizze definiert. Eine frühzeitige Diskussion der Zielstellungen der Konzeptentwicklung ist also unerlässlich.
Steckbriefe und Mustersanierungskonzepte
Um Energieeinsparpotenziale des Gebäudebestandes zu ermitteln, sind im Rahmen der Konzeptentwicklung oftmals Steckbriefe und „Mustersanierungskonzepte“ der typischen Gebäude des Quartiers vorgesehen.
Diese werden für eine gewisse Anzahl von exemplarischen Gebäuden erstellt, die zusammen einen Großteil des gesamten Bestandes abbilden.
Die Potenziale werden dabei zumeist analog zum Prozess einer BAFA-geförderten Energieberatung für Wohngebäude (Vor Ort-Beratung; individueller Sanierungsfahrplan) ermittelt, dann grafisch aufbereitet und in den Kontext des gesamten Quartiers gestellt.
Bereits während der Konzeptentwicklung, spätestens jedoch im Rahmen des Sanierungsmanagements, ist der direkte persönliche Kontakt zu den Gebäudeeigentümern essenziell.
So können kostenlose Initialberatungen als eigenständige Angebote oder in Kooperation mit den Gebäude- und weiteren Energie-Checks der Verbraucherzentralen auf die Konzeptentwicklung hinweisen und somit die Aufmerksamkeit heben.
Außerdem bietet das direkte Gespräch mit Immobilieneigentümern weitere Informationen zur generellen Modernisierungsmotivation und den sozialen und finanziellen Rahmenbedingungen.
Schließlich bieten die Vor-Ort-Termine eine gute Grundlage, um die beschriebenen exemplarisch zu bearbeitenden Gebäude auszuwählen.
Als weiterer Aspekt kann im Rahmen der Vor-Ort-Termine und der Sanierungskonzepte zusätzlich das Thema Barrierefreiheit integriert betrachtet werden.
Viele energetische Maßnahmen bieten gleichzeitig die Möglichkeit, Umbauten zur Reduzierung von Barrieren vorzunehmen.
So ist es z. B. empfehlenswert, im Zuge der Außen- oder Kellerwanddämmung auch die zugige Haustür energetisch nachzubessern oder auszutauschen und gleichzeitig den Eingangsbereich neu zu gestalten.
Kombination mit Städtebauförderung
Konzeptgebiete in die Gebietskulissen der Städtebauförderung einzubetten, ist vielfach mit Erfolg erprobt. Bestehende Kooperationsstrukturen können dann sowohl bei der Entwicklung der Quartierskonzepte als auch im Rahmen des Sanierungsmanagements unterstützend wirken.
In den Städtebaufördergebieten kann die energetische Sanierung zudem oft auf laufende Maßnahmen aufsatteln und bereits existierende Schwerpunkte der Stadtteilentwicklung ergänzen.
Besonders für Maßnahmen in Gebieten des „städtebaulichen Denkmalschutzes“ und in Sanierungsgebieten gemäß Baugesetzbuch ist die Einbindung von Architekten und Energieberatern dringend angeraten.
In Gebieten der „Sozialen Stadt“ ist die Expertise von Energieberatern bei der Entwicklung von Modernisierungskonzepten für Bauten der sozialen Infrastruktur erforderlich.
„Graue Energie“, Recycling, nachhaltige Stoffkreisläufe
Nachdem in den letzten Jahren zumeist der Energiebedarf während der Nutzung des Gebäudes im Fokus stand, gibt erst die Betrachtung über den Lebenszyklus Aufschluss über die tatsächliche Qualität eines Gebäudes, da es üblicherweise über sehr lange Zeiträume genutzt wird.
Der Lebenszyklus eines Gebäudes setzt sich aus den Phasen Planung, Errichtung, Nutzung einschließlich Instandhaltung, Modernisierung sowie Rückbau, Verwertung und Entsorgung zusammen.
Diese Lebensphasen eines Bauwerks müssen im Hinblick auf die unterschiedlichen Aspekte der Nachhaltigkeit analysiert und in ihrem Zusammenwirken optimiert werden.
Zu beachten sind daher auch die Wahl der Dämmstoffe und weitere Baukomponenten sowie die Recyclingfähigkeit der Systeme.
Ziel ist es, zu einer objektivierenden und quantifizierenden Bewertungsmethode für den Variantenvergleich unterschiedlicher Gebäudeentwürfe zu gelangen, um eine möglichst hohe Gebäude- und Nutzungsqualität mit möglichst geringen Aufwendungen und Umweltwirkungen zu erreichen und langfristig aufrechtzuerhalten.
Besonders im Zusammenhang mit der Entscheidung zwischen der Modernisierung eines Gebäudes und alternativ dem Abriss und Ersatzneubau ist die Betrachtung des gesamten Lebenszyklus relevant und wird bereits teilweise im Rahmen von Quartierskonzepten gefordert.
Für die Ökobilanzierung von Bauwerken steht die Plattform ÖKOBAUDAT zur Verfügung.
Mobilität: Clevere Kombinationen motivieren
Auch der Bereich Mobilität und damit die Fortbewegung innerhalb eines Quartiers wie auch die Anbindung nach außen muss bei nachhaltig geplanten Quartieren gezielt bedacht werden und geplant sein. Sie ist verstärkt Bestandteil von Quartierskonzepten.
Zentrale Zielstellungen sind hierbei die Reduzierung des MIV (motorisierten Individualverkehrs) und die Stärkung des Umweltverbundes aus nicht motorisierten Verkehrsträgern (Fußgänger und öffentliche oder private Fahrräder), öffentlichen Verkehrsmitteln (Bahn, Bus und Taxis), sowie Carsharing und Mitfahrzentralen.
Bereits die Etablierung oder Sicherung sozialer Infrastruktur sowie der Nahversorgung stellt einen Beitrag dar, die fußläufig zu nutzende „Stadt der kurzen Wege“ zu entwickeln.
Konkrete Maßnahmen können beispielsweise der umfassende Ausbau von Radwegenetzen sein, die Schaffung von Sharing-Angeboten (Bike-Sharing, Car-Sharing oder auch Ride-Sharing), oder auch die Etablierung von attraktiven E-Mobilitätsstrukturen mit entsprechender Ladeinfrastruktur.
Dabei liegen die Handlungsmöglichkeiten sowohl bei der öffentlichen Hand als auch bei Privaten. Durch gezielte Hinweise bzw. Beratung durch Experten können Bauherren dazu angeregt werden z. B. durch Förderprogramme unterstützte Maßnahmen im Mobilitätsbereich umzusetzen.
Ein Beispiel hierfür ist die frühzeitige Integration von Radabstellmöglichkeiten sowohl bei Neubauten als auch bei geplanten Umbauten des Bestandes. Um eine wachsende Fahrradnutzung zu fördern, sind qualitativ hochwertige Fahrradabstellanlagen unabdingbar.
Die einfache Zugänglichkeit von Fahrradabstellanlagen spielt bei der Verkehrsmittelwahl eine bedeutende Rolle.
Ein weiteres Beispiel ist das Förderprogramm für Ladeinfrastruktur für Elektrofahrzeuge (BMVI), durch das Kommunen, Landkreise, Betriebe und Einrichtungen der kommunalen Trägerschaft von Zuschüssen profitieren können.
Am 19. August 2019 startete der vierte Förderaufruf. Damit können noch bis einschließlich Oktober 2019 neue Anträge auf Fördermittel für öffentlich zugängliche Ladestationen gestellt werden.
Prinzipiell ist bei der Beratung von Eigentümern immer zu hinterfragen, inwieweit Baumaßnahmen und die Installation von Infrastruktur mit dem Thema nachhaltige Mobilität gekoppelt werden können.
Z. B. können auf einer Carport-Anlage Solarmodule installiert werden und so das Elektro-Fahrzeug mit dem selbst produzierten Strom betrieben werden.
Klimabewusstes Verbrauchsverhalten
Mit klimabewusstem Verbrauchsverhalten rücken „weiche“ Maßnahmen in den Fokus. Es geht um Information, Kommunikation, Motivation, Koordination und Service.
Nur so können die errechneten Werte im energetisch sanierten Gebäude bzw. im Quartier tatsächlich erreicht werden. Mit einem veränderten Bewusstsein kann darüber hinaus auch der Stromverbrauch reduziert werden.
Um Mitwirkungsbereitschaft bei Bewohnern, privaten Eigentümern, Gewerbetreibenden und anderen Akteuren im Stadtteil zu wecken, spielt eine qualifizierte Öffentlichkeitsarbeit eine wichtige Rolle.
Mit einem Quartierskonzept werden deswegen auch passende Maßnahmen wie z. B. Kampagnen zur zielgruppenspezifischen Information und Beratung entwickelt, durch die das individuelle Verantwortungsbewusstsein geschärft wird.
Diese Beratungen stellen für Energieberater ein weiteres Handlungsfeld dar.
Nachhaltiger Konsum und Abfalltrennung
Auch Aspekte des Nachhaltigen Konsums und der Abfalltrennung lassen sich durch bauliche Maßnahmen unterstützen.
Dies beinhaltet beispielsweise die Berücksichtigung ausreichender Räumlichkeiten zur Abfalltrennung in den Gebäuden oder im Außenraum.
Unterflursysteme mit entsprechenden Behältern können sowohl Wohn- oder Nutzfläche in den sensiblen publikumswirksamen Erdgeschossbereichen freihalten als auch den Außenraum relativ attraktiv gestalten.
Weitergehende Ansatzpunkte einer nachhaltigen Quartiersentwicklung sind bereitgestellte Räumlichkeiten zur Eigeninitiative der Bewohnerinnen und Bewohner z. B. für ein Repair Café, ein Food-Sharing-Regal oder auch zentrale Tauschläden.
Grüne und blaue Infrastrukturen der Klimaanpassung
Vor allem im Zuge des Klimawandels und der damit verbundenen, bereits heute vielerorts wahrnehmbaren Folgen, ist es von großer Bedeutung, die „grünen und blauen Infrastrukturen“ im Quartier mit in den Fokus zu rücken.
Diese Infrastrukturen müssen an Klimawandelfolgen wie Starkregenereignisse und Hitzewellen angepasst sein und deren negative Effekte entsprechend mindern.
Beispielhaft genannt werden kann die Gebäudebegrünung von Dächern und Fassaden, die eine positive Wirkung auf das Mikroklima in Quartieren hat.
Aber nicht nur für die Umgebung, sondern auch innerhalb des begrünten Gebäudes kann ein positiver Beitrag zum Innenraumklima geleistet werden.
So kann beispielsweise unter einer extensiven Dachbegrünung mit 10 bis 15 cm Substrataufbau eine 30- bis 60-prozentige Verringerung des Wärmeeintrages gegenüber einem Kiesdach erzielt werden.
Auch bei kalten Außentemperaturen wirken begrünte Fassaden und Dächer dämmend. So lassen sich Themen wie Energieeinsparung und Klimaanpassung erfolgreich kombinieren.
Ein weiterer Pluspunkt ist die Bindung von CO2-Emissionen aus der Umgebung – so kann z. B. eine 20 cm tiefe Wandbegrünung eine Bindung von etwa 2,3 kg CO2/m2 pro Jahr im Quartier bewirken.
Deutschlandweit existieren verschiedene Förderprogramme für Gebäudebegrünung, z. B. in der Stadt Hamburg die sogenannte Gründachförderung.
Durch die Förderung können die Eigentümer – sowohl für Wohngebäude als auch für Nichtwohngebäude – Zuschüsse von 30 bis 60 Prozent der Herstellungskosten für Begrünungsmaßnahmen erhalten.
Beispiele aus Quartieren
Brunsbüttel
Für das Quartier Koogstraße/Beamtenviertel in Brunsbüttel (Abb. 2) wurde 2017 ein energetisches Quartierskonzept entwickelt.
Schwerpunkte waren die Modernisierung des historischen Beamtenviertels im Rahmen der Städtebauförderung „städtebaulicher Denkmalschutz“ sowie die Entwicklung eines Nahwärmenetzes zur Nutzung industrieller Abwärme.
Das Konzept wird von 2019 bis 2021 durch ein Sanierungsmanagement und zukünftig in Kooperation mit dem Sanierungsträger umgesetzt.
Kiel
Im Jahre 2015 wurde für das Quartier Kiel Elmschenhagen-Süd (Abb. 3) ein energetisches Quartierskonzept fertiggestellt. Herausforderung in diesem Quartier ist die energetische Modernisierung bei gleichzeitigem Erhalt des typischen Stadtbildes der Klinkerfassaden.
Das Konzept wird seit 2015 durch ein Sanierungsmanagement umgesetzt, sodass bereits zahlreiche Einzelprojekte realisiert werden konnten. Seit 2018 wird das Handlungsfeld um das Thema Quartiersmobilität ergänzt.
Bad Segeberg
In der Südstadt in Bad Segeberg (Abb. 4) wurde im Jahre 2018 in Kooperation mit dem Sanierungsträger der „Sozialen Stadt“ ein energetisches Quartierskonzept entwickelt.
Aufgrund der zahlreichen Einzeleigentümer lag das Hauptaugenmerk auf den individuellen Beratungen und der Erarbeitung von Mustersanierungskonzepten. Außerdem wurde das Thema Barrierefreiheit der Einzel- und Reihenhäuser betrachtet.
Dieser Artikel von Jan Gerbitz und Susanne Gallenz ist zuerst erschienen in Gebäude Energie Berater 10-2019. Susanne Gallenz ist M. Sc. Stadtplanung mit Fortbildung zur Klimaanpassungsmanagerin und Projektleiterin im Bereich Kommunales und Quartiere bei der ZEBAU GmbH. Jan Gerbitz ist Dipl.-Ing. Architektur und Stadtplanung und seit 2011 Leiter des Geschäftsbereiches Kommunales und Quartiere bei der ZEBAU GmbH.