Niederspannung: Das bringt die neue VDE-AR-N 4105
Im Herbst 2018 kam die neue Niederspannungsrichtlinie VDE-AR-N 4105 des VDE, die fortan beim Anschluss von Solargeneratoren, Stromspeichern oder BHKW zu beachten ist. Nach langen und teilweise zermürbenden Debatten haben die zuständigen Gremien ein ganzes Paket von miteinander verzahnten Regelungen vorgelegt. Allein die neue 4105 hat 96 Seiten.
Ein neues Paket der Normung
So wurde auch die Mittelspannungsrichtlinie des BDEW aus dem Jahr 2008 durch die neue VDE-AR-N-4110 (Mittelspannung, 27. April 2018) ersetzt. Zugleich wurde die VDE-AR-N 4120 (Hochspannung) geändert.
Die neue VDE-AR-N 4100 (Technische Regeln für den Anschluss von Kundenanlagen an das Niederspannungsnetz und deren Betrieb – TAR Niederspannung) ist zwar veröffentlicht, muss aber noch notifiziert werden. Sie erhielt ein neues Kapitel zum symmetrischen Betrieb als Erweiterung des Kapitels zum symmetrischen Anschluss, um zu hohe Schieflasten zu vermeiden. Das betrifft beispielsweise die Einbindung von Ladetechnik für die Elektromobilität, aber auch Speicher und Erzeugungsanlagen. Erzeugungsanlagen und Stromspeicher wurden sowohl in die AR 4105 als auch in die AR 4100 (Netzrückwirkungen) aufgenommen.
Erzeuger vom Typ 1 und Typ 2
Generell unterteilt die VDE-AR-N 4105 verschiedene Stromerzeugungsanlagen. Zum Typ 1 gehören alle Erzeugungsanlagen mit direkt gekoppelten Synchrongeneratoren, dies sind hauptsächlich größere Motor-BHKW. Zum Typ 2 gehören alle andere Erzeugungsanlagen, die über einen Wechselrichter oder einen Asynchrongenerator ans Netz gekoppelt sind.
Speicher (AC- oder DC-gekoppelt) gelten nicht als Erzeugungsanlagen. Für sie gelten aber in der Regel dieselben Anforderungen wie für Typ-2-Anlagen. Mit einer Ausnahme: Laufen die Speicherbatterien am DC-Eingang des Wechselrichter, also DC-gekoppelt wie ein Solarstring, werden sie als Erzeugungsanlage Typ 2 geführt.
Die ersten Energieversorger haben bereits damit begonnen, ihre Formulare und Anträge auf die neuen Anwendungsregeln umzustellen. Diese wesentlichen Punkte müssen die Installateure von Photovoltaik, Stromspeichern und Brennstoffzellen beziehungsweise Motor-BHKW künftig beachten:
- neue Leistungsklassen für den Netzanschluss,
- neue Regelung für P(AV,E) beim Netzanschluss,
- Zertifikate für Einheiten,
- Veränderungen beim NA-Schutz,
- Wechselrichter müssen auch bei Fehlern bis zu fünf Sekunden am Netz bleiben (Stabilisierung),
- zusätzliches Blindleistungsverfahren Q (U),
- Übergangsfristen.
1. Neue Leistungsklassen
Die neue 4105 zieht bei 135 Kilowatt Anlagenleistung eine Grenze. Für alle kleineren Anlagen gilt die 4105. Anlagen mit mehr als 135 Kilowatt Wirkleistung am Netzanschluss sind der VDE-VR-N 4110 zugeordnet.
Früher war alleine die Spannungsebene ausschlaggebend. Bisher brauchten Anlagen für die Mittelspannung mit mehr als einem Megawatt Leistung oder mehr als zwei Kilometer Leitungslänge ein Anlagenzertifikat. Jetzt benötigen Anlagen bereits ab 135 Kilowatt bis 950 Kilowatt ein vereinfachtes Anlagenzertifikat B. Anlagen mit mehr als 950 Kilowatt brauchen auch weiterhin ein vollständiges Anlagenzertifikat A.
Die neue Grenze von 135 Kilowatt bezieht sich auf die Anlagenwirkleistung. Bei cos phi = 0,9 darf so die Anlagenscheinleistung bis zu 150 kVA betragen. Dies wird allerdings in der Praxis wenig Bedeutung haben, da die Wirkleistung des Wechselrichters auch zugunsten der Blindleistung reduziert werden darf. Damit werden die meisten Anlagen an der 135-Kilowatt-Grenze auch nur 135 kVA haben. Ansonsten müsste der Wechselrichter auf 150 kVA überdimensioniert werden und bei der Wirkleistung trotzdem auf 135 Kilowatt begrenzt sein. Dies würde nur Sinn machen, wenn vom Netzbetreiber das Verfahren cos phi (P) mit dem vollen Stellbereich von 0,9 gefordert wird.
2. Neue Regelung zu P(AV,E)
Weiterhin legt die Novelle der Niederspannungsrichtlinie Bedingungen fest, unter denen es erlaubt ist, bis zu maximal 67% mehr Anlagenleistung zu installieren als die genehmigte Anschlussleistung. „Die Anforderungen sind, dass nach einer technisch nie vollständig zu vermeidenden Überschreitung der genehmigten Anschlussleistung nach spätestens zehn Sekunden keine Überschreitung mehr besteht“, erläutert Martin Rothert, Experte von SMA. Er hat bei der Neufassung der Regeln in den Gremien der DKE/VDE mitgewirkt. „Kann dies nicht eingehalten werden, muss die Anlage schnell abschalten. Sobald es Wechselrichter oder Managementsysteme gibt, die dies leisten, besteht eine sehr interessante Option, mehr erneuerbare Energie ins Netz zu integrieren – ohne teuren Netzausbau.“
Der Installateur muss den Wechselrichter mit der Anschlusswirkleistung richtig parametrieren. Die von Martin Rothert erläuterten Anforderungen erledigt der Wechselrichter beziehungsweise das technische System, das die Einspeisung steuert.
3. Zertifikate für Einheiten und Anlagen
Die neuen Normen kennen zwei Zertifikate: das Einheitenzertifikat für Komponenten wie Wechselrichter oder Batteriewechselrichter, eine Hausaufgabe für Hersteller und Anbieter, und das Anlagenzertifikat, das erst ab 135 Kilowatt Anschlussleistung sowie in der Mittelspannung gefordert wird.
Anlagen kleiner 135 Kilowatt nach AR 4105 brauchen nur Einheitenzertifikate für die Erzeugungsanlage, Speicher und den NA-Schutz. Diese Zertifikate bringen die Hersteller bei. Der Installateur muss lediglich darauf achten, dass die von ihm verbaute Technik entsprechend zertifiziert ist. Bisher galt die Konformitätserklärung der Hersteller. Sie ist noch voraussichtlich bis zum 1. April 2020 zulässig. Danach müssen die Hersteller gemäß der Prüfnorm VDE V 0124-100 zertifizieren.
Für Erzeugungsanlagen größer als 135 Kilowatt bis 950 Kilowatt gilt die VDE-AR-N 4110 (Mittelspannung). Für solche Anlagen gibt es künftig ein vereinfachtes Anlagenzertifikat B für die gesamte Anlage am Netzanschlusspunkt gemäß AR 4110 (Anlagenzertifikat). Wird die Anlage an die Niederspannung angeschlossen, ist das Anlagenzertifikat nicht notwendig. Dann muss das Einheitenzertifikat lediglich der VDE AR-N 4110:2018 entsprechen.
4. Veränderungen beim NA-Schutz
Der Netz- und Anlagenschutz (NA-Schutz) kam 2011 in unsere Branche. Die generelle Untergrenze von 30 Kilowatt für den externen NA-Schutz ist geblieben, sie wurde nicht abgeschafft. Bestandsanlagen, die durch Zubau neuer Leistung diese Grenze am gemeinsamen Einspeisepunkt überschreiten, müssen mit NA-Schutz ausgerüstet werden.
„Ein Beispiel: Eine Bestandsanlage hat 20 Kilowatt Anschlusswirkleistung. Nun baut der Installateur am selben Anschlusspunkt weitere 20 Kilowatt zu“, rechnet Martin Rothert vor. „Dann hat die Anlage an diesem Netzanschlusspunkt insgesamt 40 Kilowatt. Also liegt sie über der Grenze von 30 Kilowatt und braucht einen externen NA-Schutz nach AR 4105.“
Läuft in der Anlage ein Stromspeicher, so wird er zur Solarleistung addiert, wenn der Speicher für Netzeinspeisung vorgesehen ist (beispielsweise um Primärregelleistung zu erbringen). Reine Eigenverbrauchsspeicher werden beim NA-Schutz nicht zur Solarleistung addiert. „Auch hier ein Beispiel: Die Photovoltaikanlage hat 29 Kilowatt. Nun wird ein Eigenverbrauchsspeicher nachgerüstet, mit zehn Kilowatt Entladeleistung“, sagt Martin Rothert. „Diese Anlage braucht noch keinen NA-Schutz. Läuft der Speicher jedoch auch im Regelleistungsbetrieb, kann also einspeisen, ist ein externer NA-Schutz zu installieren. Denn die Grenze von 30 Kilowatt wurde überschritten.“
Einfacher wird es bei den externen Kuppelschaltern, über die der NA-Schutz die Anlage gegebenenfalls vom Netz trennt. Bisher waren zwei Schaltglieder in Reihe vorgeschrieben. Unter 100 Kilowatt durfte man Schütze verwenden, über 100 Kilowatt waren sogenannte Leistungsschalter erforderlich. Solche Leistungsschalter kosteten ein Mehrfaches der einfachen Schütze.
Jetzt genügt in der Niederspannung ein einziges Schütz, auch bei mehr als 100 Kilowatt. Allerdings brauchen die Schütze eine Überwachung mittels Rückmeldekontakt, den man mit überschaubarem Aufwand verdrahten muss.
Wenn die Spannung abfällt, muss das Schütz im Fehlerfall automatisch trennen. Bislang waren stets allpolige Schütze vorgeschrieben (vierpolige Schütze mit Trennung des N-Leiters). Mit der neuen AR 4105 genügen in den gängigen TN-Netzen fortan dreipolige Schütze. Das senkt die Kosten und den Aufwand bei der Installation.
5. Verhalten der Wechselrichter am Netz
Die Hersteller weisen diese Funktionalität durch die Einheitenzertifikate nach AR 4105 nach. Vor allem geht es darum, dass die Leistungselektronik bei Unter- oder Überspannung die Solaranlagen und Stromspeicher nicht abrupt trennt, sondern bis zu fünf Sekunden am Netz bleibt, aber keinen Strom mehr einspeist (Fault Ride Through, FRT). Wechselrichter ohne FRT sind nicht mehr zulässig.
Dazu muss der externe NA-Schutz weitgehend unabhängig von der Netzspannung funktionieren, sonst würden die Kuppelschalter sofort abfallen. Deshalb brauchen der externe NA-Schutz und die Kuppelschalter nunmehr eine eigene, unabhängige Stromversorgung oder einen sehr weiten Eingangsspannungsbereich. „Bei einem externen NA-Schutz oder Kuppelschalter ist gegebenenfalls eine kleine USV notwendig“, sagt Martin Rothert.
Bei der Netzfrequenz bleiben die oberen Grenzen und das bekannte P(f)-Verhalten ab 50,2 Hertz weiterhin bestehen. Bei Unterfrequenzen gelten neue Regelungen. Dann müssen die Solargeneratoren oder angeschlossene Speichersysteme bei Frequenzen kleiner 49,8 Hertz ihre Einspeisung erhöhen.
Unterfrequenz bedeutet, dass die Nachfrage nach Elektrizität höher ist als die Erzeugungsleistung. Also stützen die dezentralen Erzeuger und die Speicher kurzzeitig das Netz, indem sie verstärkt Leistung liefern.
So können Speicherbatterien – sofern sie nicht bereits entladen sind – kurzzeitig höhere Leistung ins Netz geben. Das wird künftig auch von Eigenverbrauchsspeichern verlangt, die eigentlich nicht für Netzeinspeisung vorgesehen sind. Der Batteriewechselrichter muss bei Unterfrequenz im Netz reagieren. Die eingespeisten Energiemengen sind sehr gering, auch sind solche Vorfälle außerordentlich selten.
Läuft ein BHKW beispielsweise nur mit halber Last, kann es das Netz bei Schwächen stützen, indem es die Leistung erhöht. Auch wurden die Anforderungen an die zulässigen Oberschwingungen für Wechselrichter mit mehr als 50 Kilowatt verschärft.
Abschließend sei noch auf die Neuerungen bei der Stabilisierung der Netzspannung über den Leistungsfaktor Cosinus Phi hingewiesen.
6. Einstellung Cosinus Phi
Zur statischen Spannungshaltung gibt es künftig drei zulässige Verfahren statt bisher nur einem. Der Netzbetreiber gibt das Verfahren oder den Cosinus Phi vor, der Installateur muss es bei Inbetriebnahme am Wechselrichter einstellen. Die Verfahren sind:
- Q(U) (Blindleistung in Abhängigkeit von der Spannung),
- Cosinus Phi(P) (Leistungsfaktor in Abhängigkeit von der Leistung),
- eine feste Vorgabe für Cosinus Phi.
Für Speicher gibt es nur zwei Verfahren: Q(U) oder fest eingestellter Cosinus Phi. Der Installateur stellt fortan nur noch das Verfahren 1, 2 oder 3 ein. Er muss keinen Blindleistungsstellbereich oder andere Parameter mehr eingeben.
Dieser Beitrag von Heiko Schwarzburger ist zuerst erschienen in photovoltaik 03/2019. Heiko Schwarzburger ist Chefredakteur der photovoltaik.
Übergangsfristen: Schonzeit bis Ende April
Wer noch nach den alten Regeln der VDE-AR-N 4105:2011 oder der Mittelspannungsrichtline des BDEW anschließen will, muss das Anschlussbegehren bis zum 26. April 2019 beim Energieversorger (EVU) eingereicht haben. Maßgeblich ist der Posteingang beim EVU. Die Anlagen müssen bis 30. Juni 2020 ans Netz angeschlossen werden und vollständig in Betrieb gesetzt sein.
Tatkräftige Unterstützung
Diese Analyse der neuen Normen entstand unter maßgeblicher Mithilfe von Sebastian Poensgen (Priogo AG aus Zülpich) und Maria Roos, Referentin für Technik beim BSW-Solar in Berlin. Eine wesentliche Hilfe leistete Martin Rothert von der Firma SMA.