Warum Berechnungs- und Nachweisverfahren vereinfacht werden müssen
„Regeln sind kein Selbstzweck, weshalb es nicht mehr Regeln geben soll, als erforderlich.“ 18 Mal finden sich im Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und FDP von 2009 Bekenntnisse zum Bürokratieabbau wie dieses. Im gleichen Jahr ließen sich dem DIN-Normenausschuss Heiz- und Raumlufttechnik sowie deren Sicherheit (NRHS) 237 technische Regeln zuordnen. Zwölf Jahre später führte der Koalitionsvertrag zwischen SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP die Notwendigkeit des Bürokratieabbaus 26 Mal auf. Die Zahl der Richtlinien im DIN NRHS ist unterdessen auf rund 300 angestiegen.
Allein die relevanten Richtlinien zur Bestimmung von Heiz- und Kühllast sowie zur Durchführung des GEG-Nachweises umfassen 2.943 Seiten, aufgeteilt in die
- DIN EN 12831-1 Energetische Bewertung von Gebäuden,
- DIN/TS 12831-1 Verfahren zur Berechnung der Raumheizlast,
- VDI 2078 Berechnung der thermischen Lasten und Raumtemperaturen (Auslegung Kühllast und Jahressimulation),
- VDI 6020 Anforderungen an thermisch-energetische
Rechenverfahren zur Gebäude- und Anlagensimulation, - VDI 6007 Teile 1 bis 3 Berechnung des instationären
thermischen Verhaltens von Räumen und Gebäuden sowie - DIN V bzw. TS 18599 Energetische Bewertung von Gebäuden Teile 1 bis 13 zzgl. Beiblätter 1 bis 3.
Zum Vergleich: Für die Wärmeschutzverordnung von 1977 genügten 15 Seiten - einschließlich Anlagen.
In der jeweils ausführlichen Variante erlaubt keines der in den Normen und Richtlinien festgelegten drei Verfahren eine sinnvolle händische Berechnung in Tabellenkalkulationswerkzeugen, weshalb praktisch zwingend Computerprogramme erforderlich sind. Trotz unterschiedlicher Zielsetzungen der Richtlinien – Auslegungsleistung, Energiebedarfsprognose – sind die maßgeblichen Eingangsgrößen identisch: Gebäudegeometrie, Nutzung, Klima- und Anlagentechnik.
Dennoch braucht es für die CAE-Werkzeuge neben aufwändigen Übergabe-Schnittstellen mindestens drei verschiedene Rechenkerne. So bedingen die unterschiedlichen Zeitschrittweiten in der Bilanzierung, die von statisch über monatlich bis stündlich reichen, zahlreiche Korrekturfaktoren, um beispielsweise interne und solare Wärmegewinne, thermische Kapazitäten oder Teillastzustände berücksichtigen zu können.
Manche ignorieren Richtlinien angesichts der Komplexität
Die praktische Notwendigkeit für eine Zusammenführung der Verfahren liegt auf der Hand. Jetzt wäre ein guter Zeitpunkt, das zu tun. Warum jetzt? Die Kühllastregeln stehen vor einer Überarbeitung, da marktübliche Simulationswerkzeuge methodisch fortgeschrittener sind. Mit ihnen gelingt beispielsweise die Berechnung der solaren Einstrahlung nach aktuellen Modellen besser als mit jenen der VDI 6007. Kuriose Folge: Softwarehersteller müssen genauere Berechnungsmethoden nachträglich korrigieren, um veralteten Validierungsfällen gerecht zu werden. Einige Anbieter verzichten deshalb zum Beispiel gänzlich auf eine Validierung nach VDI 2078.
Was die Heizlastberechnung anbelangt, wurde im Zuge der europäischen Harmonisierung deutlich, dass die Art und Weise, wie Gebäude in der subtropischen Zone beheizt werden, doch signifikant von derjenigen in der subpolaren Zone abweicht. In der Folge existieren zur DIN EN 12831-1 teilweise nationale Parallelversionen (hierzulande die DIN/TS 12831-1), die für jedes Einzelkapitel eine Überprüfung dahingehend erfordern, welches der Dokumente denn nun anzuwenden ist.
Besonders deutlich wird das am Beispiel der Lüftungszonen. So hat die normative Vorgehensweise zur Ermittlung der Lüftungswärmeverluste mittlerweile eine derartige Komplexität angenommen, dass sich die nationale Ergänzung offenbar dazu veranlasst sah, die Gleichungen der europäisch harmonisierten Fassung für „eine anschaulichere Berechnung und übersichtlichere Darstellung“ neu zu sortieren.
Derartiges erscheint in der Lehre kaum noch vermittelbar. Kein Wunder, wenn Richtlinien in der Folge in CAE-Tools ohne inhaltliches Verständnis und folglich ohne ingenieurmäßige Plausibilisierung „angewendet“ werden. Gerichtsprozesse, die sich mit vier unterschiedlichen Energieausweisen zu ein und demselben Gebäude befassen müssen, spiegeln dies am Beispiel der DIN V 18599 wider. Im Falle der Heizlast-Berechnung wird darüber hinaus in weniger komplexen Anwendungsfällen wie zum Beispiel Wohngebäuden aus Gründen der Verhältnismäßigkeit nicht selten gänzlich von einer Anwendung der Richtlinie abgesehen, wodurch eine unüberschaubare Beliebigkeit bei der Vorgehensweise entsteht.