Bilanzgrenzen im Klimaschutzgesetz: Fossile oder nicht fossile Maßnahmen?
Das Bundesverfassungsgericht hat am 29. April 2021 seinen Beschluss veröffentlicht, wonach die Regelungen des Bundes-Klimaschutzgesetzes (KSG) vom 12. Dezember 2019 unzureichend sind, und hat bis Ende 2022 Nachbesserungen gefordert. Begründet wird das „Klimaurteil“ [1] im Wesentlichen wie folgt:
„Um die Vorgaben des Pariser Abkommens von 2015 zu erreichen, müssen die nach 2030 noch erforderlichen Minderungen dann immer dringender und kurzfristiger erbracht werden. Von diesen künftigen Emissionsminderungspflichten ist praktisch jegliche Freiheit potenziell betroffen, weil noch nahezu alle Bereiche menschlichen Lebens mit der Emission von Treibhausgasen verbunden und damit nach 2030 von drastischen Einschränkungen bedroht sind.“ Das Bundesverfassungsgericht sieht damit die grundrechtlich geschützte Freiheit speziell der heute noch jungen Generation und zukünftiger Generationen als sehr gefährdet an.
Angesichts der Erfahrungen von eingeschränkter Freiheit, die wir alle in Covid-19-Pandemiezeiten gemacht haben, kann diese Warnung gar nicht ernst genug genommen werden. Denn es geht darum, wie wir künftig leben, heizen, produzieren und uns fortbewegen (dürfen). Deshalb sollte auch nicht versucht werden, die gesetzlichen Forderungen nur minimalistisch zu erfüllen, sondern dem Kern der Problematik, der Emission von Treibhausgasen, sollte mit allen erdenklichen Mitteln so schnell und intensiv wie möglich entgegengewirkt werden.
KSG und schnelle KSG-Novelle
Im Vorfeld des Bundestagswahlkampfs 2021, in dem der Klimawandel eine zentrale Rolle gespielt hat, hat die Bundesregierung ungewöhnlich schnell reagiert und der Bundestag hat schon am 24. Juni 2021 mehr als ein Jahr vor der gesetzten Frist die Novelle KSG 2021 [2] beschlossen. Am 31. August 2021 ist sie mit dem Ersten Gesetz zur Änderung des Bundes-Klimaschutzgesetzes bereits in Kraft getreten.
Mit dem KSG 2021 wurde die Klimaneutralität auf 2045 vorgezogen, die Ziele für 2030 wurden verschärft (Bild 2) und die Zielvereinbarungen für den Zeitraum von 2030 bis 2045 konkretisiert. Während die Sektoren Energiewirtschaft (knapp 40 %) und Industrie (gut 15 %) strengere Vorgaben für das Zwischenziel im Jahr 2030 erhalten haben, sind die Verschärfungen im Gebäudesektor mit knapp 5 % sehr gering ausgefallen, was verwundert.
Bei der Bilanzierung der CO2-Emissionen im Gebäudesektor werden (fast) ausschließlich die verbrennungsbezogenen CO2-Emissionen aus Heizungsanlagen, die im Gebäude installiert sind, berücksichtigt. Für die Bilanz des Gebäudesektors bedeutet dies, dass Gebäude, die mit Nah- oder Fernwärme, elektrisch angetriebenen Wärmepumpen (WP) oder gar mit Wärmestrom beheizt werden, hier keine Treibhausgasemissionen verursachen.
Diese Bilanzierung bedeutet letztendlich, dass ein Wechsel der Beheizung von überwiegend Erdgas und Heizöl auf Fernwärme, Biomasse, CO2-neutrale Gase und strombasierte Systeme den Gebäudesektor im Sinne des KSG 2021 klimaneutral macht.
Das Quellenprinzip verschiebt Treibhausgasemissionen
Diese Betrachtung erscheint auf den ersten Blick sehr fragwürdig, da in Deutschland weder derzeit, noch im Jahre 2030 Nah- und Fernwärme bzw. Strom zu 100 % regenerativ bereitgestellt werden können.
Nach genauer Überlegung kann aber festgehalten werden, dass die im KSG vorgenommene Betrachtungsweise berechtigt ist. Es wird ja nicht behauptet, dass die Beheizung eines Gebäudes mit Fernwärme, WP oder gar Wärmestrom keine CO2-Emissionen verursacht, sondern lediglich, dass hierbei im Bilanzraum des Gebäudes keine CO2-Emissionen entstehen, was technisch gesehen aufgrund des Quellenprinzips für die Bilanzierung korrekt ist:
Sowohl bei der Fernwärmeversorgung als auch bei der Beheizung mit Strom entstehen die CO2-Emissionen im Bereich der Energiewirtschaft und nicht im Gebäudesektor und dürfen darum auch nicht zweimal bilanziert werden. Und eine Bilanzierung nach dem Verursacherprinzip wäre ungleich komplexer und fehleranfälliger bzw. auf Pauschalierungen angewiesen.
Wie groß die Differenz zwischen Verursacher- und Quellenprinzip für den Gebäudesektor schon ohne einen Wandel in der Beheizungsstruktur ist, zeigt eine Bilanz für das Jahr 2014. Nach der Quellenprinzip (KSG) sind dem Gebäudesektor 119 Mio. t CO2-Äquivalent zuzuordnen. Tatsächlich sind durch die Nutzung und den Betrieb der Wohn- und Nichtwohngebäude vom Gebäudesektor nach dem Verursacherprinzip aber 297 Mio. t CO2-Äquivalent freigesetzt worden [3].
Aus den unterschiedlichen Bilanzprinzipien erklärt sich auch die oft zu lesende Aussage, dass der Gebäudesektor für 33 % der nationalen Treibhausgasemissionen (40 % inkl. Herstellung, Errichtung und Modernisierung) verantwortlich ist, das KSG dem Gebäudesektor aber für das Jahr 2020 nur 14,5 % der zulässigen Jahresemissionsmenge zuordnet.
„Ein Sektor ohne CO2-Emissionen“ ist nicht automatisch klimafreundlich
Aus der Tatsache, dass weder Nah- und Fernwärme noch Wärmepumpen- oder Heizstrom zu einer CO2-Emission in der KSG-Bilanzgrenze für den Gebäudesektor beitragen, darf aber nicht geschlossen werden, dass diese Technologien automatisch besonders klimafreundlich sind und deshalb per se forciert werden sollten. Dies gilt insbesondere für die direkte Strombeheizung. Der Gebäudesektor darf keinesfalls den einfachen Weg beschreiten und lediglich die Form der Wärmebereitstellung im Gebäude von Öl- und Gasheizung auf Fernwärme, WP und Heizstrom umstellen. Damit würde nämlich nur der „Schwarze Peter“ weitergereicht und der Energiesektor muss die Suppe auslöffeln.
Aber genau dies geschieht gegenwärtig vielerorts. Es wird aufgezeigt, dass die Vorgaben des KSG allein durch die simple Substitution von Öl- und Gas-Heizkesseln durch Wärmepumpen erfüllt werden kann. Werden solche Überlegungen als Machbarkeitsabschätzung angesehen, ist dies zulässig und sollte uns hoffnungsvoll stimmen, dass noch viel mehr erreicht werden kann.
Die Bemühungen im Gebäudesektor aber auf die Substitution von Öl- und Gas-Heizkesseln durch Wärmepumpen zu reduzieren, wäre fatal und ein Verbrechen an den jüngeren und zukünftigen Generationen. Denn zum einen wird weder das maximal mögliche noch das wirtschaftlich sinnvolle getan, um die CO2-Emissionen zu reduzieren, zum anderen wird, wie erwähnt, die Problematik auf den Energiesektor übertragen. Und ob der in der Lage ist, die zusätzlichen Lasten zu schultern, muss zumindest infrage gestellt werden.
Allerdings kann auch der Gebäudebereich direkt zur Dekarbonisierung im Energiesektor beitragen. Beispielsweise werden die Stromerträge gebäudenah installierter Photovoltaik- und KWK-Anlagen nicht im Gebäudesektor, sondern in der Treibhausgasbilanz des Energiesektors wirksam, sofern sie zum Zeitpunkt der Erzeugung (oder eine Speicherung) die nationale Stromerzeugung mit fossilen Energieträgern verringern.
Erhebliche Auswirkungen auf die erneuerbare Stromerzeugung
Soll die Reduzierung der CO2-Emissionen im Gebäudesektor von 118 Mio. t CO2 in 2020 auf 67 Mio. t CO2 in 2030 ausschließlich durch die Umstellung von Öl- und Gas-Heizungen auf Wärmepumpen erfolgen, müssten etwa 205 TWh Heizöl und Gas eingespart werden. Bei realistischen durchschnittlichen Jahresarbeitszahlen (JAZ) der Wärmepumpen von JAZ = 3 steigt der Strombedarf hierdurch bis zum Jahr 2030 um knapp 70 TWh/a an.
Laut Strombericht betrug der Stromverbrauch 2019 in Deutschland ca. 513 TWh, wovon ca. 236 TWh regenerativ und 70 TWh nuklear erzeugt wurden. Das heißt, 207 TWh konventionelle Stromerzeugung verursachten etwa 245 Mio. t CO2-Äquivalent (35 Mio. t CO2 gehen auf das Konto der Fernwärme).
Bis 2030 müssen im Energiesektor nicht nur die zulässigen Emissionen um über 60 % von 280 auf 108 Mio. t CO2-Äquivalent reduziert werden, es müssen auch 140 TWh/a (70 TWh/a durch den Kernenergieausstieg plus 70 TWh/a zusätzlicher Wärmepumpen-Strom) zusätzlich erzeugt werden. Hieraus lässt sich abschätzen, dass die regenerativen Stromkapazitäten von 236 TWh (2019) bis zum Jahr 2030 auf etwa 500 TWh angehoben werden müssen.
Zur Verdoppelung dieser regenerativen Energiekapazität müssen aufgrund der Volatilität bei der regenerativen Stromerzeugung und aufgrund des volatilen Stromverbrauchs die regenerativen Leistungskapazitäten im Bereich der Stromerzeugung aber weit mehr als verdoppelt werden. Unberücksichtigt ist hierbei noch der zusätzliche Strombedarf durch einen Anstieg der Elektromobilität und für die Erzeugung von Wasserstoff durch Elektrolyse.
Vom Merit-Order-Prinzip zum CO2-Order-Prinzip
Heute wird die Einsatzreihenfolge von Kraftwerken in der Regel nach dem „Merit-Order-Prinzip“ durchgeführt: Kraftwerke mit niedrigen Grenzkosten kommen zuerst, Kraftwerke mit hohen Grenzkosten kommen zuletzt zum Einsatz. Überträgt man diesen Wirtschaftlichkeitsgedanken auf die Ökologie (CO2-Order), müssten Kraftwerke mit hohen spezifischen CO2-Emissionen als erstes vom Netz und solche ohne CO2-Emissionen zuletzt vom Netz genommen werden.
Tendenziell geschieht dies bereits heute durch Kosten für Emissionsrechte und den Vorrang für erneuerbare Energien im Stromnetz. Je höher die CO2-Preise (europäischer Emissionshandel), desto schneller wird aus dem wirtschaftlichen Merit-Order-Prinzip auch ein ökologisches CO2-Order-Prinzip.
Wird jedoch der Zubau an regenerativer Stromerzeugung nicht schnell genug erreicht, müssen ältere Kraftwerke mit hohen CO2-Emissionen (z. B. Öl-Kraftwerke) länger weiterbetrieben werden. In der Folge muss zusätzlich benötigter Strom, sei es durch Wärmepumpen oder Elektromobilität, durch alte Kraftwerke mit hohen spezifischen CO2-Emissionen erzeugt werden. Und damit wird weder die Wärmepumpentechnik noch die Elektromobilität im implizierten Umfang ökologisch und klimaneutral. Zudem wird hier deutlich, wie komplex eine Bilanzierung nach dem Verursacherprinzip wäre.
Es geht um „fossil oder nicht fossil?“
Die Frage darf also nicht auf „Elektro-Wärmepumpe oder Heizkessel?“ reduziert werden, sondern es geht um „fossil oder nicht fossil?“ Das gleiche gilt im Verkehrssektor für Elektroautos oder Verbrennungsmotoren. Denn nur die Kombination mit regenerativem Strom macht den Elektroantrieb ökologisch wirklich sinnvoll. Dies gilt für den Gebäude- wie den Verkehrssektor gleichermaßen. Auch gilt für beide Sektoren gleichermaßen, dass nicht nur die Energieträger und deren Bereitstellung (regenerativ) geändert werden müssen, sondern dass es auch zu einer drastischen Reduzierung der benötigten Energiemengen kommen muss.
Abschließend soll angemerkt werden, dass die klimarelevante Bewertung von Gebäuden (Gebäudehülle plus Anlagentechnik) nicht nach dem Bundes-Klimaschutzgesetz erfolgt, sondern nach dem im November 2020 in Kraft getreten Gebäudeenergiegesetz (GEG). Die energetische Bewertung und die Beurteilung der CO2-Emissionen durch den Gebäudebetrieb, werden mithilfe der DIN V 18 599 (Energetische Bewertung von Gebäuden) ermittelt.
Hierbei gibt es auch Grundforderungen an die Qualität von Gebäudehülle und Anlagentechnik. So ist z. B. eine einfache Substitution einer Ölheizung etwa durch eine elektrische Infrarot-Strahlungsheizung im Bestandsgebäude in der Regel nicht zulässig. Hier werden auch Mindestanforderungen an die Effizienz von Wärmepumpensystemen gestellt.
Die Sachlage ist aber derart prekär und die gegebenenfalls drohenden notwendigen freiheitseinschränkenden Restriktionen liegen so nah, dass die Frage heute nicht mehr lauten darf: „Was muss ich tun?“ – sondern: „Was kann ich tun?“. Und dabei muss wiederum beantwortet werden: „fossil oder nicht fossil?“.
Dieser Artikel von Prof. Dr.-Ing. Alexander Floß ist zuerst erschienen in TGA Fachplaner 11/2021. Prof. Dr.-Ing. Alexander Floß studierte Maschinenbau an der TU München und promovierte dort 1994 auf dem Gebiet Kältetechnik. 1995 machte er sich mit einem Planungsbüro für TGA selbständig. 1999 folgte er einem Ruf an die Hochschule Biberach, wo er in den Studiengängen Energieingenieurwesen sowie Energie- und Gebäudesysteme die Bereiche thermische Energiesysteme und Anlagenplanung lehrt. Am Institut für Gebäude- und Energiesysteme (IGE) der Hochschule Biberach forscht Prof. Floß in den Gebieten Kälte- und Wärmepumpentechnik sowie Hydraulik. Mit seinem Ingenieurbüro widmet er sich heute den Bereichen Beratung, Schulung und Gutachten sowie Produktentwicklung.
Der Artikel gehört zur TGA-Themenseite Standpunkte.
Literatur
[1] BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 24. März 2021 – 1 BvR 2656/18 (veröffentlicht am 29. April 2021 und Pressemitteilung Nr. 31/2021 vom 29. April 2021 des Bundesverfassungsgerichts „Verfassungsbeschwerden gegen das Klimaschutzgesetz teilweise erfolgreich“. Download: www.bit.ly/klimaurteil und weitere Infos: www.tga-fachplaner.dehttps://www.tga-fachplaner.de/tags/klimaurteil
[2] Bundes-Klimaschutzgesetz vom 12. Dezember 2019, BGBl I Seite 2513, zuletzt geändert durch Artikel 1 des Ersten Gesetzes zur Änderung des Bundes-Klimaschutzgesetzes vom 18. August 2021, BGBl I Nr. 59 vom 30. August 2021, Seite 3905. Download: www.bit.ly/ksg_volltext
[3] Umweltfußabdruck von Gebäuden in Deutschland. Stuttgart: Gentner Verlag, Onlinemeldung auf www.tga-fachplaner.de vom 20. Dezember 2020 zur „Kurzstudie zu sektorübergreifenden Wirkungen des Handlungsfelds ‚Errichtung und Nutzung von Hochbauten‘ auf Klima und Umwelt“, Herausgeber: Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR).